Das Geheime Vermächtnis
bald setzte sein leises Schnarchen wieder ein, und noch immer blieb Carolines Blick starr an die Decke geheftet.
Sie grübelte. Sie fragte sich, wo Corin den ganzen Tag verbrachte, wo er überall hingehen mochte. Sie war noch nie auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken. Er berichtete ihr immer beim Abendessen von seinem Tag, doch wie konnte sie wissen, dass er die Wahrheit sagte? Woher sollte sie wissen, wie lange es wirklich dauerte, verirrte Rinder zur Herde zurückzutreiben, Viehdiebe zu verfolgen, junge Ochsen zu brandmarken, den Hengst Apache einer Zuchtstute zuzuführen, Zäune auszubessern, die Weizenfelder zu pflügen, einzusäen oder zu ernten, Heu zu machen oder sonst irgendetwas zu tun? Und natürlich konnte Corin jederzeit Joe irgendwohin schicken, wenn er ihn aus dem Weg haben wollte. Und Magpie war oft schon eine gute Stunde aus dem Haus gewesen, ehe Corin abends heimgekommen war. Es gab Zeiten, viele Stunden, in denen die beiden sonstwo hätten sein können, ohne dass Caroline davon wusste. Und wie er damals Magpie berührt hatte – wie er bei dem Fest in Woodward die Hände auf ihren Bauch gelegt hatte. Dies waren Carolines Gedanken, während sie wach lag, und während sie am Ende eines jeden Tages in der dröhnenden Stille saß und darauf wartete, dass Corin nach Hause kam. Wenn Caroline ihren Mann sah, verflogen ihre Ängste. Wenn sie allein war, wucherten sie wie Unkraut. Ihr einziger Trost war, dass Magpie ihrer Ansicht nach völlig unscheinbar war. Dieses widerspenstige Haar, ihre stämmige Figur, die fremdartigen Gesichtszüge. Caroline bedachte all diese Dinge und rief sich ins Gedächtnis, wie Corin stets ihre eigene Schönheit pries.
Doch an einem schweren Tag im August, an dem die bösartige Sonne das Grasland bleichte, wurde Caroline selbst dieser Trost genommen. Magpie stand vor dem Küchenfenster, leicht seitwärts, sodass sie die Hüfte an die Küchenbank lehnen konnte, während sie mit einem kurzen, scharfen Messer Karotten schälte. Sie sang wie so oft, und ihre Miene wirkte weich, die Hände geschäftig. Caroline beobachtete sie durch die offene Tür zum Wohnzimmer, versteckt hinter einem Buch, das sie zu lesen vorgab, und als das leise Lied kurz verstummte, blinzelte sie überrascht. Magpie hielt in ihrer Arbeit inne, ihr Blick glitt in die Ferne, und sie legte eine Hand auf ihren geschwollenen Bauch. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, und dann nahm sie ihren Gesang und die Arbeit wieder auf. Das Baby hatte sich bewegt, begriff Caroline. Es war wach und lebendig in diesem Mädchen. Es lauschte dem Lied seiner Mutter. Caroline schluckte und legte die Hand auf ihren eigenen Bauch. Dieser war mehr als flach, er war leicht nach innen gewölbt. Da war kein weiches, einladendes Fleisch, keine ungehemmte Vitalität. Sie konnte ihre Rippen und Hüftknochen spüren, hölzern und spitz. Wie trocken und hart und tot ihr Körper im Ver gleich zu Magpies erschien. Wie die toten Hülsen, die Spreu, welche die Männer aus dem Weizen droschen. Sie blickte wieder zu dem Mädchen auf, und es schnürte ihr die Kehle zu, sodass sie einen Moment lang keine Luft bekam. Die Sonne schien durch das Fenster herein und brachte Magpies dichtes, schwarzes Haar zum Glänzen, hob den breiten, großzügigen Schwung ihrer Oberlippe hervor, die hohen Wangenknochen und schrägen, mandelförmigen Augen, den warmen Schimmer ihrer Haut. Magpie war schön.
Am nächsten Tag schlich Caroline sich barfuß in die Küche, als Corin sich eben zu regen begann. Sie goss ihm einen Becher kalten Tee ein und schnitt zwei dicke Scheiben von dem Brotlaib vom Vortag, die sie mit Honig bestrich. Als er sich im Bett aufsetzte und ins Dunkelgrau der Morgendämmerung blinzelte, brachte sie ihm diese Gaben dar.
»Frühstück im Bett. Früher habe ich samstags immer im Bett gefrühstückt«, erzählte sie ihm lachend.
»Oh, danke sehr. Wie vornehm ich mich gleich fühle!« Corin schmiegte eine Hand an ihre Wange und trank einen großen Schluck Tee. Caroline rückte die Kopfkissen hinter ihm an die Wand.
»Bleib noch einen Moment sitzen, Liebster. Du brauchst doch nicht gleich hinauszulaufen«, drängte sie ihn.
»Wenn man eine Arbeit aufschiebt, ist sie davon nicht schneller getan«, seufzte er sehnsüchtig.
»Nur noch fünf Minuten«, bettelte sie. »Koste mal das Brot. Ich habe es mit dem Honig bestrichen, den Joe für uns gesammelt hat.«
»Der Mann ist ein Wunder, was Bienen angeht«, bestätigte Corin nickend.
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