Das Geheime Vermächtnis
Stein in der Hand herum. Er ist warm und glatt.
»Ich wollte Eddie holen. Es wird höchste Zeit, dass er nach Hause kommt – es ist schon stockfinster hier draußen«, sage ich zu Dinny. Ich fühle mich sehr verletzlich und irgendwie bedroht. Das Wasser ist nichts als Schwärze zu unseren Füßen.
»Du musst deinen Augen nur Zeit lassen, sich daran zu gewöhnen«, erklärt Dinny mir, während die beiden anderen sich wieder ihren Steinen und der schwarzen Wasserfläche zuwenden und hell schimmernde Wasserspritzer in der Fins ternis zählen.
»Trotzdem sollten wir jetzt nach Hause gehen. Meine Eltern sind da …«
»Ach? Grüß sie von mir.«
»Ja, mache ich.« Ich stehe so dicht neben ihm, dass sich unsere Ärmel berühren. Es ist mir gleich, ob ich ihn bedränge. Ich brauche etwas nah genug bei mir, um mich festhalten zu können wie an einem Anker. Ich höre ihn atmen, höre seinen Umriss in den Echos vom Teich.
»Willst du den Stein nicht werfen?« Die Vorstellung scheint ihn zu amüsieren.
»Ich kann ja das Wasser kaum sehen.«
»Na und? Du weißt, dass es da ist.« Er sieht mich von der Seite an. Er ist nur eine Silhouette, und ich würde am liebsten die Hände auf sein Gesicht legen, um zu erspüren, ob er lächelt.
»Na schön, ich versuche es.« Ich rücke langsam an den Rand vor und suche einen festen Stand. Dann gehe ich in die Hocke, schwinge den Arm, lasse den Stein los und folge ihm, als er auf die Oberfläche zufliegt, über das obsidianschwarze Wasser. Eins, zwei, drei … Ich zähle die Platscher, und dann stolpere ich, mir wird schwindelig wie in großer Höhe, meine Füße rutschen über das Ufer, und ich schnappe nach Luft. Was für ein Ort, zu dem ich diesen unschuldigen Stein geschickt habe – welch eine Dunkelheit.
»Drei! Erbärmlich! Harry hat vorhin sieben geschafft!«, ruft Eddie mir zu. Ich spüre Dinnys Hände unter meinen Armen, seine beruhigende Kraft, die mich wieder auf die Füße zieht. Panik flattert in meiner Brust.
»Keine so tolle Nacht zum Schwimmen, glaube ich«, murmelt Dinny. Ich schüttele den Kopf und bin froh, dass er mein Gesicht nicht sehen kann, denn ich habe Tränen in den Augen.
»Komm schon, Eddie, wir gehen jetzt rein«, sage ich. Meine Stimme ist rau und ein wenig scharf.
»Aber ich habe gerade …«
»Sofort, Eddie!« Er seufzt und überreicht Harry feierlich seine restlichen Steine. Sie klappern warm und fröhlich, als sie in Harrys Hand kullern. Ich weiche vom Rand zurück und gehe aufs Haus zu.
»Erica«, ruft Dinny mir nach. Ich drehe mich um, und er zögert. »Frohe Weihnachten«, sagt er. Ich höre ihm an, dass er eigentlich etwas anderes sagen wollte, und obwohl ich gern wüsste, was, fühle ich mich in diesem Augenblick nicht stark genug, danach zu fragen.
»Frohe Weihnachten, Dinny«, entgegne ich.
Verlust
1903–1904
Der Sommer reifte heran, und Magpies Körper mit ihm; er schien von Tag zu Tag mehr anzuschwellen, während das Baby in ihm wuchs. Sie bewegte sich mit einer eigenartigen Anmut, so zielstrebig wie immer, aber niemals ruckartig. Geschickt manövrierte sie ihre neue Leibesfülle um die Möbel herum und durch die schmale Tür der Erdhütte, die sie mit Joe teilte. Caroline beobachtete sie. Sie beobachtete, und sie fragte sich … Ihr Herz war schwer von Verdächtigungen, die sie sich selbst binnen eines Tages zwanzigmal ausredete und wieder bestätigte. Und vor allen Dingen war sie neidisch. Jedes Mal, wenn sie den wachsenden Umfang des Indianermädchens sah, fühlte sie sich elend und schwach, erfüllt von etwas Dunklem und Bitterem. Und wenn irgendetwas sie aus dem Haus und hinaus in die Sommersonne treiben konnte, dann war es dieses Gefühl.
Das Holzhaus konnte die Hitze einfach nicht so abhalten wie die dicken Sandsteinmauern es in New York getan hatten. Und, so dachte Caroline, wenn es in New York heiß war, dann doch nie so heiß wie hier, und sie hatte sich bei solchen Temperaturen auch noch nie zuvor anstrengen müssen. Aber Magpies Gelassenheit trotz der Hitze und Hutchs drängende Worte an Neujahr arbeiteten in ihr. An einem Tag, der leicht bedeckt und etwas kühler als üblich heraufzog, entschied sie daher, dass sie endlich einmal aus dem Haus gehen würde. Sie packte einen Korb mit einer frischen Melone, ein paar Keksen und einer Flasche Wasser, verknotete das Band ihrer Sonnenhaube mit einer Schleife unter dem Kinn und machte sich auf zur nächsten Farm. Die gehörte einer irischstämmigen Familie namens Moore
Weitere Kostenlose Bücher