Das Geheime Vermächtnis
sich unter dem gewaltigen Himmel auflöste. Ihre Schritte platschten auf dem nassen Boden, und Carolines Rocksaum war bald durchweicht und mit rötlichem Matsch bespritzt.
Drei Stufen führten in die Erdhütte hinab, und Caroline versank in weicher, warmer Dunkelheit, in der nur eine Petroleumlampe gegen die Finsternis drinnen und draußen kämpfte. Die Luft war von einem starken Geruch nach Rauch aus dem Ofen, Tierhäuten und Kräutern durchdrungen, die Caroline nicht benennen konnte. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen, als sich aller Augen auf sie richteten – Magpie, White Cloud und Joes Schwester Annie blickten zu ihr auf. Joe selbst blieb draußen und verschwand wieder im Regen. Magpies Gesicht glänzte vor Schweiß, ihre Augen waren angstvoll geweitet. Die Mienen der anderen Frauen waren zurückhaltend – nicht unfreundlich, aber reserviert.
»Joe … sagte, ich solle kommen. Er sagte, du … du hast darum gebeten, dass ich komme?«, stammelte Caroline. Magpie nickte schwach, ehe ihr Körper sich krampfhaft krümmte und sie die Zähne zusammenbiss, sodass sie sehr wild aussah. »Was soll ich tun? Ich weiß nicht, was ich tun soll!«, jammerte Caroline verzagt. White Cloud sagte ein paar schnelle Worte in der Ponca-Sprache und reichte Caroline einen kleinen hölzernen Eimer voll Regenwasser und ein sauberes Tuch. Die alte Frau bedeutete ihr, das Tuch ins Wasser zu tauchen, presste sich dann die Hand an die Stirn und zeigte auf Magpie. Caroline nickte, kniete sich neben die Gebärende und wusch ihr mit dem kühlen Wasser den Schweiß vom Gesicht. Während sie diese intime Pflicht verrichtete, fürchtete sie, das Mädchen könnte irgendwie in ihr kummervolles Herz blicken.
Im Halbdunkel stimmte White Cloud ein leises, monotones Lied an, das sie alle einlullte. Es lullte selbst Caroline so ein, dass sie jegliches Zeitgefühl verlor und nicht mehr wusste, ob sie erst seit Minuten oder schon seit Stunden hier war. Die Worte klangen undeutlich und trocken, und das Lied hörte sich für Caroline an wie das lange, gemächliche Rascheln des warmen Präriewindes, einsam und andächtig. So gleichmäßig, wie Wellen an einem Strand ausliefen, bäumte Magpie sich gegen den Schmerz auf, kniff die Augen zusammen und bleckte die Zähne. Sie sah wild aus, wie eine Katze, doch sie schrie nicht ein einziges Mal auf. Weiter und weiter rollten die Wellen, während es draußen dunkel wurde. Und weiter und weiter sang White Cloud ihr Lied und mischte einen durchdringend riechenden Trank an, den sie Magpie Löffel für Löffel einflößte. Dann, mit einem tiefen, kehligen Laut wie ein ersticktes Knurren, gebar Magpie ihr Baby in Annies wartende Hände, und White Cloud beendete ihr Lied mit einem schrillen Freudenschrei. Über ihr runzliges Gesicht breitete sich ein Grinsen, das zu einem Lachen wurde. Caroline lächelte erleichtert, doch dann reichte Annie den strampelnden, wimmernden kleinen Jungen seiner Mutter, und Caroline spürte, wie ihr ein Splitter ins Herz fuhr und dort stecken blieb. Tränen traten ihr in die Augen, und als sie den Kopf abwandte, um sie zu verbergen, fiel ihr Blick in einer dunklen Ecke der Erdhütte auf ein Paar Sporen mit Lederriemen. Sporen, nach denen Corin suchte – er hatte sie gefragt, ob sie sie irgendwo gesehen hätte. Sie starrte sie an, und der Splitter bohrte sich noch tiefer hinein.
Zwei Monate später war das Baby drall und entzückend. Es bekam einen Namen, der in der Ponca-Sprache erstgeborener Sohn bedeutete, doch seine Eltern, und folglich auch alle anderen, nannten ihn William. Er wurde in einer Schlinge auf Magpies Rücken überall mit herumgetragen und betrachtete die Welt mit einem Ausdruck milden Staunens in den runden Augen. Er schlief auch am Rücken seiner Mutter, ein schlaff zusammengesunkenes Häuflein, dem die Spucke übers Kinn lief, und rührte sich nicht, während Magpie ihre Arbeit im Haus wiederaufnahm. Das Kind schien ihren Körper überhaupt nicht ermüdet zu haben. Die Kälte vermochte ihrer Munterkeit ebenso wenig anzuhaben wie die Hitze. Sie erschien täglich im Haus, in ihre dicke, bunt gemusterte Decke gewickelt, die Wangen vom Wind dunkelrot gefärbt, die Augen so glänzend wie schwarze Perlen.
Und obwohl es Caroline schmerzte, William im Arm zu halten, bat sie oft darum, ihn nehmen zu dürfen. Es war unwiderstehlich, wie eine Wunde immer wieder zu berühren oder an einem Bluterguss herumzudrücken. Sie legte ihn sich in die Armbeuge und wiegte ihn sanft. Er
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