Das Geheime Vermächtnis
und lag sechs Meilen entfernt im Nordwesten. Caroline hatte zwar keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlte, sechs Meilen weit zu laufen, aber sie hatte Corin sagen hören, dass ein Mann gut vier Meilen in einer Stunde schaffen konnte. Sie dachte, wenn sie früh aufbrach, würde sie rechtzeitig dort eintreffen, um einen Kaffee zu trinken und vielleicht einen Happen zu essen, und dann pünktlich wieder zu Hause sein, um bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen. Sie sagte Magpie, wohin sie wollte, und straffte die Schultern, als die junge Ponca sie mit starrem, ungläubigem Blick ansah und langsam blinzelte wie eine Eule.
Sie ging eine Stunde lang. Anfangs bewunderte sie die Blüten der Rossminze und des wilden Eisenkrauts und pflückte ein Sträußchen für die Moores, doch bald hing der Korb wie ein totes Gewicht an ihrem Arm, und der Henkel hinterließ einen Striemen auf der Haut. Sie war trotz der Wolken nass geschwitzt, und der Schweiß juckte unter ihrer Haube. Ihre Röcke waren schmutzig und voller Kletten und Distelstacheln, die den Stoff zusammenhefteten, sodass er schwer um ihre Beine schwang und sie immer wieder zum Stolpern brachte. Der leicht gewellte, sandige Boden zog an ihren Füßen, und es war beschwerlicher, darauf zu laufen, als sie gedacht hatte. Sie kämpfte sich langsam eine langgezogene Anhöhe hinauf in der Gewissheit, dass sie von der Kuppe aus die Nachbarsfarm würde sehen können. Doch da war nichts. Keuchend betrachtete sie die Landschaft, die in weichen Wellen in die Ferne rollte, so weit das Auge reichte. Sie stellte den Korb ab, drehte sich langsam im Kreis und sah nichts als undurchbrochenen Horizont. Ein heißer Wind kam auf und malte Wellen in das lange Gras, das in der Ferne wie ein grünes, mit Gold gesprenkeltes Meer erschien. Der Wind trug den Geruch von trockener Erde und Beifuß heran und stöhnte leise und tief in ihren Ohren.
»Hier ist nichts«, murmelte Caroline vor sich hin. Da stieg etwas in ihr auf, etwas wie Panik oder Zorn. »Hier ist nichts !«, schrie sie, so laut sie konnte. Ihre Kehle fühlte sich wund und trocken an. Der Wind riss ihre Worte mit sich und gab ihr keine Antwort. Sie sank auf die Prärie nieder und legte sich hin, um auszuruhen. Ein endloser Himmel über ihr, und endloses Land überall um sie herum. Wenn sie nicht wieder aufstand, dachte sie, wenn sie einfach blieb, wo sie war, würden nur die wilden Hunde und die Bussarde sie hier finden. Das war ein schrecklicher, ein unwiderstehlicher Gedanke.
Als sie schließlich zurückging, ohne je bei den Moores angekommen zu sein, lief Caroline beinahe an der Ranch vorbei. Sie war über eine Meile zu weit nach Norden abgekommen und sah nur zufällig den Rauch aus dem Kosthaus, wo ein schweigsamer Neger aus Louisiana mit Namen Rook das Essen für die Arbeiter zubereitete. Caroline wandte sich nach Süden. Ihre Beine zitterten vor Erschöpfung. Ihr Mund war ausgedörrt, und nach einem ganzen Tag in grellem Sonnenlicht und heißem Wind brannte die gespannte Haut in ihrem Gesicht. Hinter sich konnte sie die unermesslich weite Prärie spüren, die sie beobachtete, und jenseits der Ranch erstreckte sich das Weideland in alle Himmelsrichtungen. Die Pferche und Zäune, die Weizen- und Hirsefelder, mit denen ihr Ehemann das Land gezeichnet hatte, waren erbärmlich klein. Die Ranch war eine Insel, ein winziges Atoll der Zivilisation in einem endlosen, rauen und unsteten Meer, und als sie endlich keuchend das Haus erreichte, ließ sie die vertrockneten Blumen hinter sich fallen, schloss die Tür und brach in Tränen aus.
In dieser Nacht lag Caroline trotz ihrer Erschöpfung lange wach. Der Himmel war mit Anbruch der Dunkelheit klar geworden, und der Mond ging voll und strahlend auf. Aber das war es nicht, was sie wach hielt, sondern das Wissen, die neue Erkenntnis, wie gewaltig weit und leer das Land, auf dem sie nun lebte, tatsächlich war. Sie fühlte sich davon wie verschluckt, winzig, unsichtbar. Sie wollte wachsen, sich ausdehnen, irgendwie mehr Raum einnehmen. Sie wollte etwas bedeuten. Die Luft in ihrem Schlafzimmer war erstickend schwül von der Sommerhitze. Neben ihr schnarchte Corin leise, das Gesicht ins Kissen gedrückt, die Arme seitwärts ausgebreitet. Der Mond hob die Konturen der Muskeln in seinen Armen und Schultern hervor und die scharfe Grenze, wo die gebräunte Haut seines Nackens auf den blassen Rücken stieß. Caroline erhob sich, wickelte sich in eine Decke und ging nach draußen.
Sie
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