Das Geheimnis am goldenen Fluß
hatte nie schöner ausgesehen. Sie trug ein karmesinrotes Gewand mit aufgestickten Pfirsichen, deren Rotgold genau dem Farbton von Trees Haaren entsprach. K’un-Chien spürte Begehren in sich aufwallen, und die Energie durchströmte die beiden Frauen wie ein gemeinsamer Atemzug.
Trees Augenbrauen schossen hoch, und sie schlug eine Hand vor den Mund.
»Was ist?«, fragte K’un-Chien.
»Meine Vision«, sagte Tree. »Der Ling-Chih. Ich sah genau diesen Augenblick in meiner Vision.«
K’un-Chien nickte mit ihrem ganzen Oberkörper. »Ah, so.«
Tree sah verwirrt aus. »Es ist so seltsam …«
»Aber warum? Für mich ist nur seltsam, so glücklich zu sein.«
»Aber ich hatte versucht …« Tree schüttelte den Kopf. »Wie hat der Ling-Chih dies geschehen lassen?«
»Der Ling-Chih hat gar nichts geschehen lassen. Er hat nur einen Blick in deine Zukunft geöffnet.«
»Aber ich hatte versucht, es zu verhindern. Wie konnte es dennoch passieren …? Ich war kühl zu dir. Bin dir aus dem Weg gegangen.«
»Man wird oft von dem Schicksal ereilt, dem man zu entfliehen versucht.«
Tree schluckte. »Ich wollte mich nicht in dich verlieben. Nicht so.« Sie sprang auf und eilte ohne ein weiteres Wort aus dem goldenen Kuppelbau.
K’un-Chien sah ihr nach. Trees Worte schwebten im Raum wie die Töne einer wunderschönen Melodie.
Tree ist in mich verliebt, wurde K’un-Chien klar, und das Herz in ihrer Brust sang wie ein vibrierender Kristall.
33
Mason kniete auf dem Palastboden vor einer Reispapier-Schriftrolle und übte Kalligraphien im Goldranken-Stil des Song-Kaisers, Hui Zong. Bei jedem Pinselschwung atmete er ruhig und gleichmäßig aus und versuchte, die Buchstaben so fließend und anmutig zu malen, wie Meng Po es ihm gezeigt hatte. Er rutschte ein Stück zurück und betrachtete stirnrunzelnd die kantigen Ideogramme, die über das Papier marschierten. Marschierten. Nicht tanzten. Wären Kalligraphien Musik, klängen seine Buchstaben so abgehackt wie Stars and Stripes Forever. Meng Pos Buchstaben dagegen klängen lebendig und fließend wie brasilianischer Jazz.
Er versuchte es von neuem. Das Ideogramm, das er immer wieder übte, war das chinesische Wort für Vergebung. Es setzte sich aus dem Schriftzeichen für Aktion über dem Schriftzeichen für Herz zusammen. Vergebung war ein Akt des Herzens. Er hatte ganz bewusst dieses Ideogramm als Übung gewählt, um über seine Bedeutung zu meditieren. Vergebung war kein passiver Akt, so viel stand fest. Er würde sich anstrengen müssen wie noch nie in seinem Leben, um das Ziel, sich selbst zu vergeben, zu erreichen. Und er versuchte es. Um ihrer aller willen. Er versuchte es.
Schuldgefühl und Trauer erstickten sein Leben, wie feuchter Sand ein Feuer erstickte. Das Problem war, dass er dennoch weiterleben musste. Vergebung erforderte einen Akt aus dem Zentrum seiner Emotionen, denn genau dort, im Kern seines Selbst, gab er sich die Schuld für Gibs Tod. Und ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, dieser entscheidende Akt war ihm bislang nicht gelungen. Er konnte seine Rationalität nicht überwinden, die ihm mit kalter Logik sagte, dass es seine Schuld gewesen sei. Er hatte den Abzug gedrückt. Gib war von den Kugeln niedergemäht worden. Es war Masons Schuld. Wie konnte er das jemals vergessen?
Mason hatte Gib näher gestanden als seinen eigenen Brüdern. Blut ist dicker als Wasser, doch der Geist sitzt tiefer als Blut je fließen könnte. Einen Freund zu finden, dessen Gegenwart einen irgendwie größer, gescheiter, besser macht, ist ein seltenes und wunderbares Geschenk. Echte Gespräche, nicht bloß oberflächliches Gefasel über Sport, Fernsehen und Autos, das war die Kostbarkeit, die Gib so bereitwillig mit ihm geteilt hatte. Und als Mason sich in Gibs Schwester verliebt hatte, schien es, als hätte er für alle Zeiten das Glück gepachtet.
Mason riss den unteren Teil der Schriftrolle ab. Er zerknüllte die noch feuchte Kalligraphie und warf sie in die Ecke, wo sie auf dem Haufen der anderen Fehlversuche landete.
Mason schloss die Augen und stellte sich Meng Pos mühelose Pinselschwünge vor. Der Junge sah dabei immer so ruhig und gelassen aus, vage lächelnd wie Buddha. Meng Po erinnerte ihn so sehr an den jungen Gib. Manchmal wurde Mason sogar traurig und musste sich entschuldigen und gehen, bevor die Unterrichtsstunde zu Ende war. Seit kurzem begann Mason zu spüren, dass er Meng Po und K’un-Chien so lieben könnte, wie er Gib und Tree geliebt
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