Das Geheimnis der 100 Pforten
stieß die Luft aus und trat auf die nächste Stufe. Er rechnete mit einem lang gezogenen Ächzen, einem Schlag oder vielleicht sogar einem Reißen. Womit er nicht rechnete, war ein spitzer Putzkrümel.
Als Henry zurücksprang, knallte er mit der Ferse gegen die Stufe. Mit dem anderen Fuß glitt er aus. Er landete auf den Schulterblättern, schlug sich den Kopf an und rutschte in einer Wolke aus grauem Staub die Treppe herunter. Er rang nach Luft, war fest überzeugt, tot zu sein oder mindestens gelähmt. Aber er konnte seinen Herzschlag bis in die Zehen spüren.
Er sprang auf und rannte schnurstracks ins Bad.
Henrietta und Tante Dotty, die Einzigen, die von Henrys lautstarker Rutschpartie wachgeworden waren, traten aus ihren Zimmern und in die dünne Staubwolke, die noch immer die Dachbodentreppe herunterwaberte und sich auf den grünen Teppich legte. Die Dusche wurde aufgedreht.
»Geh wieder ins Bett, Henrietta«, sagte Dotty. »Dein Cousin braucht eine Uhr.« Sie gähnte und damit schlurften die beiden zurück in ihre Zimmer.
Henry stand unter der Dusche und sah zu, wie sich unter ihm eine Sanddüne bildete. Er trat sie kaputt und verteilte sie so lange mit dem Fuß, bis er sie in den Abfluss gezwungen hatte. Als er fertig war, huschte er mit einem um den Körper geschlungenen Handtuch zurück auf den Dachboden, beide Arme voll mit dreckigen Klamotten.
In der Zimmertür blieb er stehen und musterte den Raum. Sein Bett war unter den Brocken von Putz, kleineren und größeren, fast nicht mehr zu erkennen, während der Boden aussah wie eine Kreuzung zwischen einem Strand und einer Schotterpiste. Überall hing Staub - auf seiner Lampe, an den Wänden, an den Innenseiten der Türen und sogar auf dem Fußboden bis einige Schritte vor seinem Zimmer. Er hatte keine Ahnung,
wie er dieses Chaos wieder beseitigen sollte, aber das interessierte ihn im Moment auch nicht. Er starrte nur seine Wand an.
Anfangs, als er die zweite Tür entdeckt hatte, hatte er gedacht, dass es sich bei der Wand um eine Art Einbauschrank handelte. Aber die zweite Tür bestand aus einem sehr hellen Holz, fast weiß, ganz anders als die erste Tür. Er hatte keine Ahnung, was für ein Holz es war. Allerdings hätte es auch sonst niemand in Kansas gewusst. Unter allen lebenden Menschen gab es nur zwei, die wissen konnten, um was für ein Holz es sich handelte. Einer von ihnen wohnte in einem heruntergekommenen Appartement in einer miesen Gegend von Orlando. Er hätte das Holz erkannt und anschließend nach einem starken Drink Ausschau gehalten, um sich selbst weiszumachen, dass der größte Teil seiner Kindheit gar nicht stattgefunden hatte.
Der andere Mensch war eine alte Dame in Frankreich. Ihr Mann war mit einer Reihe ziemlich merkwürdiger Geschichten und einem Schössling in einem Blechnapf aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Er hatte ihr damals den Namen des Schösslings genannt und den Namen des Mannes, der ihn ihm gegeben hatte, und beides hatte sie nie mehr vergessen. Der Baum steht nun in ihrem Garten, mächtig und stark, und bevor ihr Mann starb, vor vielen Jahren, schnitzte
er ihr ein Schmuckkästchen aus einem seiner Äste, der bei einem Sturm herabgerissen worden war.
Henry kannte diese Leute nicht. Er hatte die kleine Holztür mit ihrer hellen Maserung und dem silbern eingefassten Schlüsselloch betrachtet und war mit den Fingern darübergefahren, unfähig, die Geschichte zu lesen, die das Holz erzählte. »Was für ein Holz bist du?«, hatte er laut gefragt.
Henry hatte so lange den Putz abgekratzt und Türen freigelegt, bis er auf insgesamt fünfunddreißig gekommen war. Und er war sicher, dass es noch mehr gab. Die meisten bestanden aus Holz, in allen möglichen Größen, Maserungen und Farben. Die Formen waren ebenso unterschiedlich wie die Dekore. Manche waren ganz glatt, und andere hatten so kunstvoll geschnitzte Oberflächen, dass es unmöglich gewesen war, den Putz aus allen Windungen und Vertiefungen herauszukratzen. Manche hatten Knäufe, andere kleine Griffe, manche Schlaufen und Vorrichtungen, die Henry noch nie begegnet waren. Und eine Tür besaß nichts von alledem. Er hatte an jedem einzelnen Fach gezogen und gedrückt und vorsichtig mit der Faust dagegen geschlagen, aber ohne Erfolg. Und dann hatte er wieder weiter den Putz abgekratzt, wodurch sein frisch geschliffenes Messer stumpfer und stumpfer geworden war. Eine große Blase krönte nun seinen Daumen, entstanden durch den heftigen Druck,
mit dem er
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