Das Geheimnis der 100 Pforten
Höhe. »Das ist Magie«, sagte sie. »Es kann gar nichts anderes sein. Ein magisches Fach. Bestimmt sind alle diese Fächer magisch.«
Henry rutschte unbehaglich auf dem Bett hin und her. »Ich glaube nicht, dass das Magie ist«, sagte er. »Ich glaube nur, es ist etwas ziemlich Außergewöhnliches.«
»Henry«, sagte Henrietta. Sie beugte sich vor und sprach sehr langsam. »Draußen regnet es nicht. Und wir haben auch keine Bäume hinter dem Haus.«
»Ich weiß«, antwortete Henry. »Ich glaube nur, es ist so etwas wie ein Quantum.«
»Ein Quantum? Was ist denn das?«, wollte Henrietta wissen.
»Also«, begann Henry. »Mein Dad sagt, das ist, wenn Dinge manchmal an Stellen sind, wo sie eigentlich nicht sind. Oder an zwei Orten gleichzeitig.«
»Klingt wie Magie.«
»Nein, das ist ganz natürlich«, erwiderte Henry. Er schaukelte nervös hin und her. »Das gibt es einfach. Das ist höhere Physik.«
»Man kann also nicht etwas zu einem Quantum machen?«, fragte Henrietta.
»Das gibt es nur bei ganz, ganz kleinen Dingen.«
»Das Fach ist doch klein.«
»Nein«, sagte Henry. »Richtig winzig kleine Sachen. Und Bäume und Regen und Wind sind nicht klein.«
»Gut. Die sind also zu groß für ein Quantum«, stellte Henrietta fest. »Dann muss es eben doch Magie sein.«
Henry wusste nicht, was er sagen sollte. Er hätte gern gesagt, dass die ganze Sache nur ein Trick war, dass er nicht wirklich neben einem Haufen magischer Fächer schlief. Aber ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, das eben Geschehene zu erklären.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich.
Henrietta begann zu zittern. Sie sprang in die Höhe und blickte Henry mit weit aufgerissenen Augen an. »Würdest du nicht gern wissen, was hinter den anderen Fächern steckt? Das kann alles Mögliche sein!«
Henry saß stocksteif da. »Hast du denn gar keine Angst?«, fragte er. »Ich meine - wenn wir etwas Schlimmes finden?«
»Alle finden immer bloß schlimme Sachen«, antwortete Henrietta. »Und man versteckt etwas auch nur so, wenn es wirklich schlimm oder wirklich toll ist.« Sie zeigte auf die Türen. »Wir müssen es nur herausfinden.«
»Ich weiß nicht«, sagte Henry wieder. Aber trotz seiner Bedenken machten ihn die Fächer ziemlich neugierig.
Er wusste, dass er schreckliche Angst hätte, ein weiteres Fach zu öffnen. Aber er würde es sich selbst auch nicht verzeihen, wenn er es nicht wenigstens versuchte.
»Meinst du, mit dem Schlüssel kann man ein anderes Fach öffnen?«
Henrietta streckte den Finger aus und Henry blickte auf den Schlüssel in seiner Hand. Er wollte gerade zum dritten Mal »Ich weiß nicht« sagen, als eine knatternde, wie ein Motorrad klingende Maschine am Fuß der Dachbodentreppe aufheulte. Henry schob den Schlüssel in die Tasche und lief gemeinsam mit Henrietta die Dachbodentreppe hinunter.
Am Fuß der Treppe stand Onkel Frank. Er trug eine Schutzbrille aus Plastik und hatte sich mit einer Kettensäge vor Großvaters Tür aufgebaut. Er begann, irgendwas zu singen, dann konzentrierte er sich und zog den Hebel. Eine Wolke blauen Qualms trat an der Rückseite der Säge aus und die Schwertkette setzte sich lautstark in Bewegung. Frank setzte die Säge schräg an und senkte sie langsam gegen die Tür. Als sie sie berührte, wirbelten Holzsplitter über den gesamten Flur. Es sah aus, als müsste Frank sich Mühe geben, dass die Säge nicht abrutschte. Dennoch begann sie abzugleiten und Frank stellte sich noch ein wenig breitbeiniger in Positur. Dann blieb die Säge irgendwo hängen und hakte. Die geballte Drehkraft der Kette schleuderte Frank
gegen die Wand. Er sprang schnell beiseite, und die Säge, die er mit der linken Hand kaum noch festhalten konnte, schwang nach unten gegen seine Beine. Sie traf sie zwar nicht, stattdessen aber berührte sie mit der Nase den Boden. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich eingegraben, wobei sie den grünen Teppich zerfetzte und lange Streifen daraus um sich selbst wickelte. Dort, gemütlich in den Boden gebettet, blieb sie liegen. Frank bückte sich schwer atmend und stellte den Motor ab.
Dotty erschien am Treppenabsatz. Sie sah zu Frank, dann auf die in den Flur gegrabene Säge.
»Wir müssen los«, sagte sie. »Sonst kommen wir nicht pünktlich zum Grillabend. Bist du okay, Frank?«
Frank rieb sich das Kinn. »Meine Selbstachtung liegt irgendwo unter null«, sagte er. »Und der Boden hat ein bisschen gelitten.« Er bückte sich und zog an der ausgeschalteten Säge.
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