Das Geheimnis der 100 Pforten
es würgte ihn. Er war kurz davor, sich zu übergeben. Dann flackerte ein Licht auf. Ein sehr schmaler Lichtstrahl fiel aus dem Postfach auf einen Punkt an einer der beiden Türen. Etwas Weiches streichelte seine Wange. Henry erstarrte und bewegte nur den Kopf, um besser zu sehen. Vor seinem Gesicht krümmte sich der Schwanz einer Katze. Er peitschte von einer Seite zur anderen. Die Katze saß auf seiner Brust. Es war Blake. Und Blake starrte irgendetwas an.
Henry reckte den Kopf, bis er an dem Kater vorbeisehen konnte. Da war das Postfach mit seinem kleinen Lichtstrahl, und daneben, auf Henrys Beinen sitzend, direkt auf den Knien, war noch etwas. Etwas Dunkles. Nachdem er es gesehen hatte, spürte Henry nun auch das Gewicht auf seinen Beinen. Er unterdrückte ein Würgen. Stattdessen ließ er seinen Kopf wieder auf das Kissen sinken und tastete nach seiner Lampe. Er
knipste sie an. Der Kater auf seiner Brust rührte sich nicht. Henry reckte wieder seinen Kopf an ihm vorbei und dort saß, den Blick fest auf Blake gerichtet, eine weitere Katze! Sie war extrem dünn. An den Stellen, wo sie Fell besaß, war sie schwarz. An ihren Schultern und der Brust aber hatte sie große kahle Flecken, rote, unbehaarte, entzündete Male.
Der Blick der schwarzen Katze wanderte nun von Blake zu Henry. Als sie ein wenig näher kam, konnte Henry erkennen, dass sich etwas mit ihr bewegte. Eine dünne Schnur, die um ihren Hals gebunden war. Die Schnur verlief vom Bett zur Wand. Henry konnte es zwar nicht sehen, aber ihm war klar, wohin sie führte. Er wusste, welches Fach offen stand - sein Magen und seine Kehle sagten es ihm -; und er wusste, woher die Katze gekommen war. Allerdings wusste er nicht, was er tun sollte.
Als sich die schwarze Katze von Henrys Beinen erhob, spannte der Kater auf seiner Brust die Muskeln. Henry hörte ein leises Raunen, das von Blake kam. Der fauchte oder spuckte nicht, sondern knurrte wie ein Tiger. Henry hatte keine Lust auf eine Katzenprügelei auf seiner Brust. Aber er wollte sich auch nicht aufsetzen und Blake abwerfen. Treten konnte er ebenfalls nicht, weil die schwarze Katze auf seinen Beinen stand. Wo war das Messer? Er hatte es wohl fallen gelassen. Die schwarze Katze kam noch einen Schritt näher.
Ohne groß nachzudenken, richtete Henry sich auf, drückte Blake mit seinem rechten Arm an seine Brust und schlug voller Wucht mit seiner linken Hand nach der anderen Katze. Treffer! Ein schriller, schmerzvoller Katzenschrei erklang, als die Katze von seinem Bett in Richtung der Zimmertür flog. Dann spannte sich die Schnur und die Katze wurde in der Luft zurückgerissen und fiel zu Boden. Mit einem weiteren Ruck donnerte die Katze gegen die Seitenwand von Henrys Bett und rutschte zurück nach oben. Sie grub ihre Krallen in Henrys Decke und widersetzte sich dem Zug der Schnur. Henry konnte sehen, wie die Schnur die panische Katze würgte, bevor sie losließ und gegen die Fächer knallte. Eine Sekunde hielt sie sich mit ihren Krallen noch an der Fächerwand fest, dann gab sie auf. Henry sprang aus dem Bett. Während er Blake weiter fest an sich drückte, wurde die schwarze Katze unter Fauchen, Spucken und Kratzen zurück in das schwarze Fach gezogen. Einen Augenblick lang stand Henry reglos da, dann setzte er Blake ab und packte die Tür des Fachs. Er donnerte sie zu, dann schob er sein Bett davor.
Henry starrte Blake an, der grau und weiß und ungerührt war wie immer. Er saß am Kopfende des Bettes und putzte sich. Einen kurzen Blick warf er Henry noch zu, dann rollte er sich auf dem Kopfkissen zusammen und schloss die Augen.
ZEHNTES KAPITEL
H enry hörte Schritte auf der Dachbodentreppe. Dann wurden seine Türen einen Spaltbreit geöffnet. Henrietta hatte hellwache Augen und grinste. Sie flüsterte so laut sie konnte.
»Henry, ich hab’s! Ich weiß, wie wir noch mehr Fächer öffnen können. Ach, Blake ist bei dir? Ich wusste gar nicht, dass du Blake magst.«
Henry öffnete den Mund, aber Henrietta sprach ohne Pause weiter. »Ich weiß alles!« Sie sprang auf und ab. »Oder zumindest weiß ich ein bisschen was. Und wenn ich weiterlese, werde ich noch mehr wissen.«
»Du hast Großvaters Notizbuch gelesen?«, fragte Henry.
»Nein. Ich habe noch eins gefunden. Es war unter seinem Kissen.«
»Wie bitte?« Henry zog die Augenbrauen hoch. »Du bist zurück in sein Zimmer gegangen? Wie das denn?«
Henrietta grinste. »Mit dem Schlüssel natürlich. Ich bin heraufgekommen, aber du hast geschlafen
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