Das Geheimnis der 100 Pforten
sein Kopf im oberen Fach, während sein Schwanz im unteren hin und her peitschte. Dieser Platz schien genau nach seinem Geschmack zu sein. Er drehte den Kopf hierhin und dorthin, dann setzte er sich und begann, sich die Pfote zu lecken.
»Es gefällt ihm«, stellte Henrietta fest.
»Natürlich gefällt es ihm. Es ist ja auch urkomisch«, sagte Henry. »Welches war das andere Fach? War es Nummer 2?«
»Nummer 3, ganz am anderen Ende, kurz vor der Zimmerecke.«
Die beiden ließen den zu seiner Zufriedenheit geteilten Blake zurück und krabbelten zum Fach mit der Nummer 3. Auf seinem Papierschild stand »Mistra«. Die Pforte war kleiner als die meisten anderen und auch dunkler. Sie war aber nicht schwarz, sie schien einfach nur schmutzig zu sein. Henry überlegte noch, womit man sie säubern konnte, als Henrietta schon daraufspuckte. Sie nahm eins von Henrys T-Shirts, das auf dem Boden lag, und begann zu reiben.
»Du musst deine Wäsche nach unten bringen«, sagte sie, während sie rieb. »Sonst kommt Mom irgendwann herauf und holt sie.«
»Ich bringe sie immer nach unten«, sagte Henry. »Und ich nehme sie auch wieder mit hoch.«
Henrietta hob die Augenbrauen. »Und die Bettwäsche?«
»Wie meinst du das?«
»Hast du auch deine Bettwäsche nach unten gebracht?«
Henry nickte. »Einmal.«
»Morgen wäscht Mom wieder Bettwäsche. Oh, guck mal!«
Das tat Henry bereits. Silberne Intarsien umgaben die Ränder der Tür und erstreckten sich dann wie Äste
zur Mitte des Fachs. Genau im Mittelpunkt befand sich eine Scheibe von der Größe einer Halbdollar-Münze.
»Hast du dein Messer wieder?«, fragte Henrietta. »Du hast es doch aus dem schwarzen Fach geholt, oder?«
»Ja.«
Henrietta sah ihn auffordernd an. »Und wo ist es?«
»Wieso?«, entgegnete Henry.
»Ich brauche es.«
»Wozu?«
»Gib es mir einfach!« Henrietta wandte sich wieder der Tür zu.
»Na gut.« Henry krabbelte zum Bett hinüber, fand das Messer, das auf dem Boden lag, und brachte es Henrietta. Sie schob die Klinge unter die flache Metallscheibe auf der Tür und die sprang beiseite. Darunter befand sich ein Metallring. Henrietta steckte einen Finger hindurch und zog.
»Es ist eine Schublade«, sagte sie. Und so war es tatsächlich. Die Schublade ging ein wenig auf und die beiden Kinder rutschten zur Seite. Nun zog Henrietta sie vollständig heraus, stellte sie auf den Boden und beugte sich vor, um in das entstandene Loch zu gucken. Es war aber zu dunkel, darum fasste sie hinein und tastete mit der Hand umher. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Was ist denn?«, fragte Henry.
»Ich glaube, hier ist es irgendwie wärmer. Aber sonst kann ich nichts Richtiges fühlen.«
»Was ist denn in der Schublade drin?«
Zusammen sahen sie hinein. Da waren ein alter, zerschlissener Lappen, ein paar schon fast zu Staub zerfallene Mäusehinterlassenschaften, winzige Knochen neben grauen Resten von etwas, das mal ein Fell gewesen sein musste, zwei tote Käfer und eine Fliege.
»Na, das ist ja wohl ein bisschen langweilig«, stellte Henrietta fest. »Und was machen wir jetzt?«
»Vielleicht schlafen gehen?«, schlug Henry vor.
»Nein. Wir sollten noch die Kompass-Schlösser ausprobieren.« Sie rutschte an den Bettrand und drehte an einem der Knöpfe, bevor sie sich nach dem Notizbuch umsah. Sie nahm das, das auf der Bettdecke lag, und legte es wieder hin. »Hast du das zweite irgendwo anders hingelegt?«
»Nein. Du hast es doch gehabt.«
»Ich weiß, dass ich es gehabt habe, aber hast du es weggelegt?«
Henry schnaubte. »Warum sollte ich es weglegen?«
»Weiß ich nicht. Musst du aber doch getan haben.«
»Nein.«
Ein dumpfes Geräusch drang aus dem Stockwerk unter ihnen. Die beiden Kinder erstarrten.
»Oh, nein!«, flüsterte Henrietta.
»Was ist denn?«
»Ich glaube, Dad ist aufgewacht.«
»Vielleicht geht er nur kurz ins Bad«, sagte Henry.
Henrietta sah ihn an und lächelte nervös. »Aber ich habe Großvaters Zimmertür offen gelassen.«
»Wie bitte?«
»Und das Licht ist auch an.«
»Warum?«
»Weil ich mich so gefreut habe über das Notizbuch. Ich bin gleich nach oben gelaufen.«
»Na gut, dann lauf jetzt ganz schnell runter, mach das Licht aus und die Tür zu«, antwortete Henry. »Und wenn dein Dad dich erwischt, dann erzählst du ihm die Wahrheit!«
Henrietta sprang auf und lief auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Henry lauschte ihren Schritten auf der Treppe und wartete darauf, Franks Stimme zu hören. Ein weiterer
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