Das Geheimnis der 100 Pforten
die Leute hin?«
Er verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
»Wissen Sie es nicht?«, forschte Henrietta.
»Natürlich weiß ich es. Es ist alles eine Ewigkeit her, aber wenn du zurück in diesen Schrank steigst, kannst du mich tanzen sehen. Obwohl ich in jener Nacht vor allem Würstchen gegessen habe.« Er wandte sich um und zeigte auf die gegenüberliegende Seite des leeren Saales. »Da hinten. Du wirst mich kaum wiedererkennen. Ich war ein wahrer Teufel.«
»Ein Teufel?«
»Beherrscht. Zuvorkommend. Und äußerst gut aussehend.«
Henrietta lachte. »Und was ist passiert?«
»Die Sterne fielen herab, der Mond verfinsterte sich, die Erde bebte - wie immer du es nennen willst. In einer einzigen Nacht war für die FitzFaeren alles vorbei.
Aber dieser Schrank bewahrt die Erinnerung. Holz kann sich an beinahe alles erinnern.«
Henrietta sah zurück zum Fach. »Und wo sind die Leute alle hin?«
»Tja«, antwortete der kleine Mann. »Die meisten sind gestorben. Ich habe Reisen unternommen und bin Bibliothekar geworden.«
»Warum waren Sie im Zimmer meines Großvaters? Was haben Sie da gemacht? Mein Cousin hat Sie gesehen, nicht wahr?«
»Dein Cousin! Der kleine Schwächling? Ja, er hat Augen, die sehen können. Aber ich habe jetzt genug von deinen Fragen. Die Sonne geht unter, und bevor das Licht schwindet, will ich weit weg von hier sein. In der Dunkelheit versucht dieser Ort, der einmal voller Leben war, seine Erinnerungen wiederzuerwecken. Ich habe das schon einmal erlebt und will es kein zweites Mal.«
»Sie meinen, hier spukt es?«, fragte Henrietta. »Wenn es wirklich spukt, will ich nicht hierbleiben.«
Der Mann lachte. »Wenn du jemals dein Zuhause wiedersehen möchtest, wirst du schon hierbleiben und warten müssen. Hast du das zweite Gesicht?«
Henrietta schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Dann wird es für dich schon nicht so schlimm werden.«
Der kleine Mann schritt an dem Wandschrank entlang und öffnete ein paar Türen, bis er die gefunden hatte, die er suchte.
»Was haben Sie vor?«, fragte Henrietta.
»Ich gehe.«
»Aber wie? Ist das auch wieder ein magisches Fach?«
Der Mann lachte, stieg in das Fach und kauerte sich zusammen, um hineinzupassen. »Dies ist ein Speisenaufzug. Von der Mitte des Raumes aus habe ich gesehen, dass während der Jahre seit meinem letzten Besuch die Treppe eingestürzt ist. Und jetzt Lebewohl, dir und deinen Fragen.«
Henrietta sah zu, wie er an einem festen dünnen Seil zog und dann, unter dem schrillen Quietschen eines uralten Flaschenzugs, aus ihrem Sichtfeld verschwand. Sie beugte sich vor, um ihm nachzusehen, aber es war stockfinster.
»Sie haben mir nicht gesagt, wie Sie heißen!«, rief sie in den Schacht hinab.
»Autsch! Hör auf zu schreien! Das ist so laut hier drinnen!«
»Wie heißen Sie?«
»Frag die Kobolde heute Nacht.« Seine Stimme stieg aus den Tiefen des Schachts zu ihr herauf. Er war schon ziemlich weit unten. Henrietta schob ihre Hand in den Schacht und fasste an die beiden dünnen quietschenden
Seile. Sie verbrannten ihr die Finger, aber sie hörten auf, sich zu bewegen.
Ärgerlich klang die Stimme des alten Mannes zu ihr nach oben. »Du schreckliches kleines Mädchen! Lass sofort los!«
Henrietta lachte und lehnte sich dann vor dem Echo zurück. »Sagen Sie mir Ihren Namen!«
Sie hörte den Mann seufzen. »Eli«, sagte er.
»Eli wie?«
»Eli FitzFaeren.«
»Was haben Sie im Zimmer meines Großvaters gemacht?«
»Ich habe dort gewohnt.«
»Wie bitte?«
»Er war ein Freund. Und ein Narr wie vor ihm schon sein Vater und all seine Nachkommen. Jetzt lass das Seil los, bevor ich dich noch mit einem Fluch belege!«
»Was ist hier wirklich geschehen?«, bohrte Henrietta weiter. »Warum sind alle tot?«
Mit einem Mal begann das Seil in ihrer Hand, orange zu glühen, und wurde heiß. Henrietta schrie vor Schmerz auf und steckte ihre Hand in den Mund. Der Flaschenzug quietschte und das Seil flitzte über die Rollen. Während er hinabsauste, drang Elis Schrei aus dem Schacht. Mit einem lauten Krachen löste sich der Flaschenzug irgendwo über Henrietta von seiner hölzernen Befestigung
und fiel an der Öffnung vorbei. Der Aufprall auf dem Grund erschütterte den ganzen Saal.
Als alles wieder still war, streckte Henrietta ihren Kopf zurück in den Schacht. Sie hörte ein Stöhnen. »Sind Sie verletzt?«, rief sie. Das Stöhnen wandelte sich in Fluchen.
»Du!«, schrie der kleine Mann schließlich.
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