Das Geheimnis der 100 Pforten
»Du bist genauso schlimm wie dein Großvater!« Und er schimpfte leise weiter.
»Es war nett, Sie kennenzulernen«, sagte Henrietta.
Gelächter schallte durch den Saal. »Das meinst du doch wohl nicht ernst! Genieß den Abend im Lesser-Saal auf FitzFaeren. Genieß ihn, aber iss nichts! Und was noch viel wichtiger ist: Sieh zu, dass du nicht gegessen wirst!«
Henrietta hörte, wie er davonging. Als seine Schritte und sein Schimpfen verklungen waren, drehte sie sich um, biss sich auf die Lippe und machte sich auf zu einem Erkundungsgang.
Richard saß mit Blake auf Henrys Bett und betrachtete das Dachbodenzimmer.
»Hier wohnst du?«, fragte Richard. »Ist ja ganz schön dreckig.«
»Dein Zimmer hat mir auch nicht gefallen«, knurrte Henry. Er studierte die Liste in Großvaters Notizbuch
und sah immer wieder zu den Kompass-Schlössern hinauf. »Ich weiß nicht. Richtig naheliegende Kombinationen gibt es sonst keine mehr.« Er wählte eine aus, stellte die Knöpfe ein und setzte sich neben Richard. »Das ist die letzte Möglichkeit. Wenn sie dort auch nicht ist, wecke ich Onkel Frank.«
Richard zuckte die Schultern. »Gut«, meinte er. »Dann können wir deinen Onkel ja auch fragen, ob ich bleiben kann.«
»Komm«, sagte Henry und zusammen schlichen sie ein letztes Mal die Treppe hinunter.
Henry saß auf dem Boden und betrachtete das Fach. Er war müde und nervös. Und er gähnte, weil er beides gleichzeitig war. Er konnte an einem dieser Orte ums Leben kommen. Womöglich war es klüger, es bleiben zu lassen. Auch Henrietta konnte dort irgendwo ums Leben kommen. Er sollte besser Onkel Frank wecken.
»Das werde ich auch tun«, sagte er laut. »Nach diesem Fach. Sofern ich nicht sterbe. Sofern wir nicht sterben.«
»Wie bitte?«, fragte Richard.
Henry antwortete nicht. Er kroch bereits in das Fach hinein. Richard sah zu.
Sie lagen im Bett, und Frank sagte zu Dotty, sie solle sich wegen des Polterns und Huschen auf der Treppe
keine Gedanken machen. Ja, er wusste, dass Henry wach war. Und die Mädchen möglicherweise auch.
»Der Junge ist wie weißes Gras«, sagte er. »Als ob du ein Brett auf eine Wiese legst. Wenn du es nach ein paar Wochen oder auch nur Tagen hochhebst, ist das Gras darunter nur noch gelb und weiß. Hat keine Sonne abbekommen. Allerdings war Henry länger als bloß ein paar Tage unter dem Brett auf der Wiese.«
»Es hört sich an, als wenn die Mädchen auch da oben wären«, sagte Dotty. »Die kommen überhaupt nicht mehr zum Schlafen.«
»Sie werden es nachholen«, antwortete Frank und schlief schon wieder.
Als er aufwachte, lag das nicht an irgendwelchen Geräuschen. Er fühlte sich nur seltsam. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel war schon ganz hell. Dotty lag neben ihm und schlief.
Frank schälte sich aus dem Bett und ging gähnend auf den Flur. Er legte seine Hand auf die Klinke der Badezimmertür, dann blieb er stehen. Aus Großvaters Zimmer fiel Licht auf den Flur. Die Tür stand ein wenig offen. Frank starrte sie fassungslos an. Er konnte es nicht glauben. Er trat näher, hob die Hand und drückte gegen die Tür.
Sie schwang leicht auf. Die Vorhänge waren beiseitegezogen und es war hell im Raum. In einer Vase standen
Blumen und auf dem Boden lagen einige Gegenstände herum. Darauf achtete Frank aber nicht. Er sah auf das Bett. Ein dünner Junge, der seine Hose bis unter die Rippen hochgezogen hatte, lag ausgestreckt auf dem Rücken und schlief. Er hatte seine merkwürdigen Stiefelchen ausgezogen und nackte Füße. Und er hatte wulstige, aufgesprungene Lippen.
Frank ging zum Bett, beugte sich über den dürren Schläfer und betrachtete sein Gesicht. Er räusperte sich und die Augen des Jungen öffneten sich.
»Henry ist im Fach«, sagte Richard. »Ich habe es vorgezogen, dieses Mal auszusetzen. Würde es Umstände bereiten, wenn ich bleibe?«
DREIZEHNTES KAPITEL
A ndere Männer als Frank hätten Fragen gestellt. Sie hätten wissen wollen, wer Richard war oder warum er sich unter ihrem Dach befand. Frank trat an das Fach heran, ging auf die Knie und quetschte sich hinein. Kurz vor der Rückwand hielt er inne. Ein merkwürdiges Schmatzen war zu hören, begleitet von Luftstößen. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit im Fach gewöhnt hatten, und sah, ohne zu blinzeln, auf die Rückseite. Sie flackerte, war mal da, dann wieder verschwunden, dunkel und dann wieder Sekundenbruchteile von Licht erhellt.
Frank kroch rückwärts aus dem Fach
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