Das Geheimnis der 13 Sprache
Frau auf dem Felsen klang genau so wie die der jungen Frau, die auf uns Acht gegeben hatte. Nur einen kurzen Moment, dachte ich und hörte auf zu rudern, ich will mir das Lied zu Ende anhören.
In diesem Moment kam starker Wind auf und einen Augenblick später war ich in den roten Haaren gefangen, sodass ich weder vor noch zurück konnte. Wie jeder starke Wind dauerte auch dieser nicht lang und alles war wie früher. Mit ihm ver- schwanden auch der Gesang und die Stimme aus meiner Kindheit. Die Frau auf dem Felsen sang ein anderes Lied. Und ich konnte nichts tun als ihr zuhören. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, bis ich die Frau fragte, ob sie mich freilassen könne.
»Ich habe keine Zeit. Ich muss mich mit den Wolken unterhalten«, antwortete sie und sang weiter.
Später kam Wind auf, der die Wolken fortblies. Ich nutzte die Gelegenheit, sie erneut zu fragen.
»Ich habe keine Zeit. Ich muss gemeinsam mit dem Wind singen«, teilte sie mir mit und sang weiter.
Der Wind wehte bis in die Nacht, dann verzog er sich. Abermals bat ich um meine Befreiung.
»Ich habe keine Zeit. Ich muss mich mit dem Mond unterhalten«, gab sie zur Antwort und sang weiter.
Da wurde mir klar, dass sie nie Zeit haben würde. Jeden Tag würde es gleich sein: Entweder sprach sie mit den Wolken, dem Wind oder dem Mond.
»Wann schläfst du?«, fragte ich sie. Zwischen zwei Liedern antwortete sie mir, dass sie keine Zeit hätte zu schlafen. Immerzu müsste sie mit jemandem reden.
»Aber jeder muss irgendwann schlafen«, sagte ich, »auch du.« Zwischen zwei anderen Liedern gestand sie mir, dass sie auch gerne schlafen würde.
»Vielleicht kann ich dir helfen, wenn ich zu dir nach oben komme«, sagte ich zu ihr. Drei Tage und drei Nächte erhielt ich keine Antwort. Dann hob mich ein Windstoß hoch und setzte mich auf dem Felsen neben ihr ab.
»Wie kannst du mir helfen?«, fragte sie. »Wenn du mir wirklich ein wenig Schlaf verschaffst, werde ich dich eine Sprache lehren, mit der du die Wolken, den Wind und den Mond verstehen kannst.«
»Ich kann dir bestimmt helfen. Du wirst es sehen, wenn es Nacht wird.«
Als die Nacht hereinbrach, mischte ich im Malkasten blauschwarze Nachthimmelfarbe und bemalte die eine Hälfte des Vollmonds. Ich war überzeugt, mit nur einem halben Mond am Himmel hätte sie weniger zu reden und so ein bisschen Zeit, um zu schlafen. Aber das wirkte nicht. Auch mit dem Halbmond unterhielt sie sich ununterbrochen. In der nächsten Nacht bemalte ich den Mond so, dass nur noch eine schmale Sichel am Himmel stand. Aber auch mit ihr sprach sie die ganze Nacht. Ich dachte nach und dachte nach, aber fand keine Lösung.
Inzwischen begann ich die Sprache der Wolken, des Windes und des Mondes zu lernen. Einmal erzählte mir der Wind, dass die Jungfrau in einen jungen Mann verliebt war. Der war in sie und in eine andere Frau verliebt gewesen. Eine alte weiße Wolke verriet mir, dass die Jungfrau dort sitzen und singen müsse, bis sich der Mann entschieden habe.
»Darum kann sie nicht schlafen«, sagte mir der Mond. »Immerzu denkt sie an diesen jungen Mann, der ihr nicht treu war.«
Mit dem Mond wurde ich, ebenso wie mit den anderen, schnell gut Freund. Er wollte wissen, ob man die Farbe wieder abwaschen könne.
»Natürlich«, antwortete ich, »in jedem Bach, Teich oder Brunnen kannst du dein Gesicht waschen.«
In der nächsten Nacht bemalte ich den ganzen Mond. Zuerst war die Jungfrau überrascht. Da sie niemanden zum Reden hatte, schlief sie nach langer Zeit zum ersten Mal. Sieben Nächte lang bemalte ich den Mond.
Am siebten Morgen teilte mir die Jungfrau mit, dass ich ein Jahr bei ihr gewesen wäre und ihr wirklich geholfen hätte. Sie würde mich freilassen, wenn ich noch etwas für sie tun würde. Sie bat mich, in die nahe Stadt zu gehen und den jungen Mann zu fragen, ob er sie liebe oder nicht.
Dann löste sie mich aus ihren Haaren. Ein einzelnes rotes Haar aber wickelte sie mir um den kleinen Finger, um mich daran zu erinnern, dass ich noch nicht ganz frei war.
»Du musst mir die Antwort bringen. Denn ohne sie, egal wie sie ausfällt, werde ich nie in Ritannas Königreich gelangen«, bat die Jungfrau.
»Ich bringe sie dir sicher«, antwortete ich, »weil du so treu bist, so schön singst und mich eine neue Sprache gelehrt hast, mit der ich vielleicht die Marienkäfer verstehen werde.«
»O nein«, sagte sie, »dafür musst du die 13. Sprache lernen. Aber ich kenne jemanden, der dir helfen
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