Das Geheimnis der 13 Sprache
nicht verbrannten. Alle Unklarheiten erklärte mir das Feuer durch das Spiel seiner Flammen.
Wie lange ich dort lesend gesessen hatte, wusste ich nicht. Der Löwe schlief noch immer. Als ich am Ende des letzten Buches angelangt war, erwachte er. Seine Wunden waren verheilt. Er gähnte und streckte sich.
Dann sagte er: »Ich habe schon lange kein ganzes Jahr mehr durchgeschlafen.«
»Was?«, rief ich erschrocken. »Ein Jahr? Ich habe ein ganzes Jahr verloren.«
»Nein, nicht verloren«, entgegnete der Löwe. »Was hast du die ganze Zeit getan?«
»Ich habe neben dem Feuer gesessen und deine Bücher gelesen, die in vielen verschiedenen Sprachen geschrieben sind.«
»Dann hast du ein Jahr gewonnen und nicht verloren«, erwiderte der Löwe. »Wer ein ganzes Jahr Bücher liest, kann viel lernen. Manchmal war ich wach und habe dich beobachtet, mich aber ruhig verhalten, um dich nicht zu stören.«
»Das habe ich nicht bemerkt, weil ich so beschäftigt war. Ich habe durch deine Bücher viele fremde Sprachen gelernt. Aber ich weiß nicht, wie das möglich war«, gab ich zu.
»Das war möglich«, antwortete der Löwe, »weil du die Sprache des Feuers gelernt hast.«
»Warum kennt das Feuer so viele Sprachen?«, wollte ich wissen.
»Seit ewigen Zeiten sitzen überall auf der Welt die Menschen am Lagerfeuer und reden. So konnte das Feuer alle diese Sprachen kennen lernen. Ich habe sie gelernt, weil ich im Zirkus mit dem Feuer gearbeitet habe. Dort war ich der allerbeste Löwe, der jemals durch einen brennenden Reifen gesprungen ist. Als ich älter wurde, zog ich mich mit meinen Büchern in diese Höhle zurück. Und hier warte ich auf das, was mir das Feuer an meinem letzten Tag im Zirkus versprochen hat: dass ich einmal in Ritannas Königreich leben werde.«
»Nun«, freute ich mich, »einer meiner Wünsche ist Wirklichkeit geworden. Da ich so viele Sprachen beherrsche, kann ich jetzt bestimmt auch die Marienkäfer verstehen.«
»O nein«, erwiderte der Löwe. »Dafür musst du die 13. Sprache lernen.«
»Dann muss ich mich beeilen. Ich möchte sie noch in dieser Nacht lernen.«
»Ich will dich nicht aufhalten«, sagte der Löwe, »denn wenn jemand so viele Sprachen spricht, weiß er bestimmt, wohin er gehen muss. Aber sei vorsichtig! Pass auf, dass du auf deiner Reise nicht in den Haaren der Jungfrau hängen bleibst.«
Ich dankte ihm und fuhr weiter. Ich war sicher, mir würde so etwas nicht passieren.
Genau dort, wo der Fluss schmaler wurde und ein Felsen hoch aufragte, sah ich etwas mir gänzlich Unbekanntes. Das heißt, zuerst sah ich nichts, sondern hörte nur den Gesang einer lieblichen Frauenstimme.
Ein Hirsch, der gerade den Fluss überquerte, riet mir: »Sei vorsichtig, wenn du die Jungfrau mit den langen roten Haaren triffst. Hältst du nur einen Moment an, um ihren Liedern zu lauschen, so wird sie dich mit ihren Haaren fangen.«
»Ich habe keine Zeit anzuhalten, ich bin in Eile. Ich muss dieses Bild fertig malen, Ritannas Armreif finden und die 13. Sprache lernen. Da habe ich ganz sicher keine Zeit, Liedern zuzuhören«, erwiderte ich dem Hirsch.
»Ich habe dich gewarnt«, meinte er, als er schon fast im Wald verschwunden war. »Ihre Lieder halten jeden auf. Denn die Jungfrau kann ihre Stimme verändern. So hört jeder die Stimme, die ihn aufhalten wird.«
»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich rudere ab jetzt kräftiger.«
Die siebte Sprache
oder
Winde, Mond und Sterne,
Liebesworte flüstern gerne.
Nach der zweiten Biegung, an der schmälsten Stelle des Flusses, sah ich auf der Spitze eines Felsens eine wunderschöne Frau, die dort saß und sang. Sie hatte lange rote Haare, die fast ins Wasser reichten. Ihr Lied war wirklich großartig, aber ich war sicher, dass es mich nicht aufhalten würde.
Doch plötzlich, als ich den Haaren so nah war, dass ich sie fast berühren konnte, begann sie ein neues Lied, das ich oft in meiner Kindheit gehört hatte. Immer wenn meine Eltern abends ausgegangen waren, hatten sie eine junge Frau aus der Nachbarschaft gebeten, auf meine Schwester und mich Acht zu geben. Sie hatte wunderschöne Lieder gesungen. Wenn wir nicht brav gewesen waren oder mit Dingen hatten spielen wollen, die uns nicht gehörten, hatte sie zu singen begonnen. Sofort hatten wir uns gut benommen und ihr zugehört.
Auch diesem Lied hätte ich stundenlang lauschen können, aber ich wollte nicht stehen bleiben und ruderte noch fleißiger. Doch dann musste ich anhalten, denn die Stimme der
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