Das Geheimnis der Äbtissin
Holzschübe hinter der geöffneten Schranktür glitt.
Judith lächelte stolz. Tatsächlich hatte sie die langen Wintermonate dazu genutzt, jedes einzelne Behältnis mit einer sauberen Aufschrift zu versehen. »Manchmal muss ich sehr schnell eine bestimmte Medizin finden, dann ist es von Vorteil, wenn ich gleich nach der richtigen Lade fasse.«
»Wie bei Herzerkrankungen zum Beispiel?«
Judith zögerte und sah sie fragend an. Worauf wollte sie hinaus?
»Sigena erzählte mir von der Wirksamkeit einiger Pflanzen bei Herzanfällen. Wenn man schnell hilft, kann der Mensch gerettet werden. Ich fand das sehr interessant.«
»Ihr meint sicher Eisenhut?«
»Ja, vielleicht. Alle diese Namen habe ich mir nicht gemerkt. Wo habt ihr den Enzian? Mir graut schon jetzt unsäglich vor dem rumpelnden Reisewagen und dem Geschaukel in den engen Kurven der Alpen.«
Judith zog einen der Schübe halb heraus und griff nach einem Leinenbeutelchen. Es war noch gut gefüllt. »Ich kann es Euch leider nicht schenken. Ich muss Euch drei Silbergroschen berechnen.«
»Das ist selbstverständlich.« Beatrix nickte und griff nach dem Beutel an ihrem Gürtel. Dabei stieß sie mit dem Ellbogen an die Schale mit dem Mörser, die auf Judiths Arbeitstisch stand. Das tönerne Gefäß fiel zu Boden und zersprang klirrend. Erschrocken starrte Judith auf die vielen Scherben. Zum Glück war die Schale leer gewesen, sonst hätte sich vielleicht eine wertvolle Arznei zwischen den Bodenbrettern verteilt. Sie bückte sich, um wenigstens den Stößel zu retten.
»Es tut mir leid!«, jammerte Beatrix hinter ihr. »Ich ersetze dir den Schaden natürlich. Was bin ich für ein Tölpel!«
»Das ist nicht so schlimm«, beruhigte sie Judith. Tatsächlich hatte sie noch zwei andere ähnliche Behältnisse, in denen sie den kleinen Stampfer benutzen konnte.
Beatrix bestand darauf, den Verlust zu bezahlen, und legte ihr vier Silbergroschen auf den Tisch. Dann hatte sie es plötzlich eilig. »Wir sollten zeitig abreisen. Bei diesem Wetter kommen wir nicht besonders gut vorwärts. Die Flüsse sind voll und die Furten schwierig.«
Sie war ohne ein weiteres Wort hinausgegangen, während Judith sorgfältig den Schrank verschloss. Dann eilte sie zum Gästehaus. Über dem Hof hing der Geruch von Holzfeuer, die schwere Morgenluft drückte den Rauch aus der Esse nach unten.
An der Tür stand ihr Vater, bereits in Mantel und Sporen, und stritt mit der Äbtissin.
»Ihr wisst genau, dass uns Anteile aus der Gerichtsbarkeit zustehen!«, schimpfte die Äbtissin. »Von den umfangreichen Geldbußen, die Ihr im letzten Jahr auferlegt habt, ist uns nicht ein Pfennig zugeflossen!«
»Ehrwürdige Mutter, als Euer Vogt bin ich für das Blutgericht zuständig, habe Ärger und Aufwand. Die Prozesse kosten mich ein Vermögen. Ihr werdet mir wohl einen Ausgleich gönnen.« Der Graf wirkte ruhig, doch Judith wusste, dass der Schein trog. Bald würde er die Fassung verlieren und lospoltern. Wenn es um Geld ging, war er unnachgiebig.
Sie schlich mit einem knappen Kopfnicken an den beiden Streithähnen vorbei und suchte nach Ludwig. Der Schlafsaal war leer. Draußen hörte sie ihren Vater brüllen: »Dann beschwert Euch doch beim Kaiser, ich bitte darum! Wenn Ihr wollt, nehme ich das Schreiben gleich mit.«
Sie kehrte zur Tür um. »Vater!«
»Ja, schon gut.« Er schnaufte und sah der Äbtissin nach, die beleidigt zum Haupthaus davonlief. »Habgierig wie eine Elster, dieses Weib. Nicht einmal beim Münzrecht will sie mir einen Anteil überlassen. Wer stellt denn die Soldaten für den Transport und die Überwachung? Wer kümmert sich um das Eintreiben der alten Münzen? Ich habe die Arbeit ganz allein! Selbst die Münzschläger bezahle ich!«
Judith verkniff sich ein Grinsen. Ihr Vater war für seinen Geiz bekannt, doch in der Äbtissin hatte er wohl seine Meisterin gefunden. »Wisst Ihr, wo Ludwig ist?«
»Er wollte die Pferde satteln lassen. Meine Güte, die zweite Stunde ist bereits angebrochen, wir müssen los.«
Sie eilten zum Stall, und die Zeit reichte gerade noch, um sich vom Vater und von Ludwig zu verabschieden. Das war ein schwerer Augenblick, denn niemand wusste, wann sie sich wiedersehen würden.
Sie umarmte ihren Bruder. »Pass auf dich auf, hörst du?« Dann fasste sie an ihren Gürtel. »Würdest du das hier Silas geben?«
Sie hatte in der letzten Nacht lange überlegt, was sie ihm schreiben sollte. Nachdem sie sich entschlossen hatte, benötigte sie noch einmal die
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