Das Geheimnis der Äbtissin
Sicherheit die Verantwortung für den Kräuterschrank wieder ab. Einen Augenblick lang erwog sie, Sigena zu schreiben, doch auch das erschien ihr fruchtlos. Es gab vorerst nur eine Lösung. Sie musste, sobald der Eisenhut blühte und Tochterknollen trieb, für Nachschub sorgen und hoffen, dass bis dahin niemand danach fragte. Doch wozu brauchte Beatrix das Eisenhutpulver? Ihr wurde siedend heiß, als ihr einfiel, was sie in der Kirche gesagt hatte. Sigena habe verhindert, dass sie ihr Leben leichtsinnig wegwarf.
Ein leises Klopfen ließ sie zusammenfahren. Hastig schob sie den leeren Kasten zurück an seinen Platz und schloss den Schrank.
»Wer ist da?«
Richlinde steckte den Kopf zur Tür herein. »Schwester Judith, der Unterricht?«
»Ich komme!« Mit zittrigen Fingern rückte sie ihren Schleier gerade und versuchte sich an das Thema der letzten Französischstunde zu erinnern.
»Eschwege, neunter Tag des Mai anno 1166. Jetzt, da die ehrwürdige Mutter auf dem Weg der Besserung ist, kann ich endlich abreisen. Möge der Herr ihr beistehen. Es ging ihr lange nicht mehr so schlecht, ihre Schmerzen ließen sich kaum noch lindern. Nun wird sich Schwester Agnes um sie kümmern. Vorgestern bereits kamen Vaters Reiter an, die mich auf dem Weg nach Hause begleiten sollen. Nach Hause? Das klingt so seltsam. Das Stift ist wohl nun doch meine Heimstatt. Trotzdem freue ich mich und danke Gott von ganzem Herzen, dass ich zur Weihe der St. Gangolfkirche reisen werde, die zwiespältige Erinnerungen in mir wachruft. Auch der Kaiser wird da sein. Ich wage nicht zu hoffen, dass ich Silas wiedersehen werde. Ich verbiete meinen Gedanken, sich mit dieser Möglichkeit zu befassen, und doch kreisen sie wie Bienen beim Hochzeitsflug ihrer Königin um nichts anderes. All die Jahre hatte ich die Erinnerungen an ihn in einem hinteren Winkel meines Herzens verschlossen, nur selten gönnte ich mir das schmerzhaft-süße Vergnügen, ihn zu öffnen. Und nun drängen sie hervor wie Geister in der Dunkelheit, sie quellen hervor, und die Tür lässt sich nicht mehr versperren. Übermorgen ist der Tag des heiligen Gangolfs. Wir werden morgen nach der Laudes aufbrechen müssen. Gebe Gott, dass die ehrwürdige Mutter heute Nacht keinen Rückfall erleidet.«
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Lare, Mai anno 1166
E ine Gabelweihe kreiste über dem Bergfried, als die vertrauten Mauern endlich hinter den Baumkronen auftauchten. Ihre klagenden Schreie hingen unter dem blauen Himmel, und Judith war versucht, mit einem ebenso schrillen Freudenschrei zu antworten. Sie spornte ihre Stute noch einmal an, die letzte Meile legte sie im Galopp zurück. Der vom nächtlichen Regen aufgeweichte Weg zeugte von regem Reiseverkehr, sowohl Hufabdrücke als auch tiefe Rinnen von Reisewagen führten in Richtung Burg. Kurz vor dem weitgeöffneten Tor zügelte sie ihr Pferd und besann sich ihrer Würde. Doch die zahlreichen Schlammspritzer auf ihrem leichten Mantel konnte sie nicht verbergen. Sie lächelte glücklich, als die Torwache sich verneigte. Hinter ihr polterten die anderen Reiter über die Brücke.
»Willkommen, Herrin!«, rief Swen ihr aus dem Pferdestall zu. Hastig stieß er die Heugabel ins Stroh und eilte ihr entgegen. Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. Sie drückte ihm die Zügel in die Hand. »Sei gegrüßt, Swen! Reib sie gut ab. Und gib ihr den besten Hafer, den du hast. Sie ist fleißig gelaufen.« Sie warf einen Blick durch die offene Stalltür. War dort eine schwarze Mähne zu sehen?
Swen nickte eifrig und strich dem Pferd über die Nase. »Sie ist alt, Herrin. Sie hat Ruhe verdient. Wir haben gute junge Stuten. Wenn Ihr wollt, zeige ich Euch ein paar.«
»Vielleicht nachher, Swen«, sagte sie lachend. »Jetzt habe ich keine Zeit. Bestimmt komme ich zu spät.«
Swen runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. »Sie sind schon … ich war beim Ausmisten. Ein ganz ehrwürdiger Erzbischof war dabei mit einem schönen roten Mantel.«
»Gib uns ein paar schnelle und ausgeruhte Tiere, dann schaffe ich es vielleicht noch.« Sie zog ihn beiseite. »Ist der Kaiser angekommen?«
»Aber ja! Gestern bereits. Sein Pferd ist draußen auf der Koppel.«
»Und sein Leibarzt, dieser Maure?«
»Der dunkle Mann mit dem Teufelspferd ist auch da, Herrin. Er ist nicht mit nach Mönkelare geritten, denn er ist ein Ungläubiger, sagt der Mundschenk.«
Ihr Herz tat einen Hüpfer, und sie sah sich aufmerksam um, aber der Hof lag wie ausgestorben in der Sonne. Doch sie
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