Das Geheimnis der Äbtissin
durfte keine Zeit verlieren. In Windeseile wurden die Pferde getauscht, und sie ritten im Galopp in Richtung Mönkelare. Als sich der Wald am Fuß der Hainleite lichtete, zügelte sie unwillkürlich den jungen Hengst. Auf dem Hügel vor ihr leuchtete ein heller Kalksteinbau in der Frühlingssonne, der ihr einen leisen Aufschrei entlockte. Die beiden Türme des Westwerks reckten sich in den Himmel, als wollten sie die wenigen kleinen Wolken am Weiterziehen hindern.
»Gütiger Jesus, was für eine Kirche!«, flüsterte sie. Widerwillig musste sie anerkennen, dass der Bischof sein Werk meisterhaft vollendet hatte. Sie vergaß ihre Eile und genoss den Anblick des wohlproportionierten Bauwerks. Hinter den schlanken Türmen zogen sich elegant und schmal die drei Schiffe des Langhauses gen Osten, wo der rechte Teil des Querschiffs und einige neue Klausurgebäude den Blick auf die östliche Apsis verstellten.
Als sie den Hügel hinaufritt, staunte sie über die vielen Veränderungen. Der Weg war breit und eben, das letzte Stück sogar gepflastert. Die kleinen Hütten der Handwerker und Mönche waren Wirtschaftsgebäuden und Ställen gewichen. Der Platz, auf dem sie die Steinmetze hatte arbeiten sehen, war unter hellen Klostergebäuden verschwunden. Sie nahm an, dass sich dahinter der Kreuzgang der Mönche befand. Die Kalksteine der Häuser unmittelbar um die Kirche herum leuchteten in der Sonne. Alles wirkte aufgeräumt, die Wege waren mit frischen Platten belegt und sauber gefegt. Lediglich im nördlichen Bereich, wo sich der öffentliche Eingang für die Bevölkerung befand, erinnerten einige Stapel von Bauholz, Sandhaufen und Steine an die Unordnung der ehemaligen Baustelle.
Vor diesem Portal wurde sie von einem zappligen kleinen Mönch in Empfang genommen. »Willkommen, Schwester, äh … Herrin. Der Herr Graf bat mich, auf Euch zu warten. Der Gottesdienst hat bereits begonnen.« Wie zur Bekräftigung seiner Worte drangen die vollen Töne einer Orgel aus dem Innern der Kirche. »Ich bringe Euch an Euren Platz.«
Im Stillen dankte sie ihrem Vater für seine Umsicht, denn ohne diese Begleitung wäre sie wohl im hinteren Bereich des Gotteshauses stehen geblieben. Doch der Mönch führte sie zielstrebig durch die Vorhalle, wo einige einfach gekleidete Männer und Frauen standen, die im Langhaus keinen Platz mehr gefunden hatten. Im Mittelschiff lauschten zahlreiche Bauern und Handwerker mit ihren Familien ehrfürchtig dem dröhnenden Orgelchoral. Aus den dichtgedrängten Leibern heraus wuchsen in gleichmäßigen Abständen die massiven Pfeiler empor. Rechts oben erkannte sie das Kapitell mit den verschlungenen Blüten. Sonnenlicht drang durch die Fenster und beleuchtete die festlich gekleideten Menschen. In ihrer Mitte war eine Gasse geblieben, die der Mönch jetzt entlanghuschte. Weiter vorn erblickte sie Gerlind mit einer weißen Haube und einige andere bekannte Gesichter aus dem Lare’schen Gesinde. In der ersten Reihe standen Johannes vom Straußberg und Graf Ludwig, neben ihm ihre Brüder sowie der neue Burgverwalter Heinrich. Der Mönch deutete vage in diese Richtung und eilte ins Querschiff, wo seine dunkle Kutte zwischen einem Dutzend Benediktinern verschwand. Sie schlüpfte neben Ludwig und Beringar. Ihr Vater nickte ihr erfreut zu, Beringar stieß sie übermütig in die Seite.
Erst jetzt fiel ihr Blick in das linke Seitenschiff, wo Stühle für die hohen Gäste aufgestellt worden waren. Drei Augenpaare musterten sie unverhohlen: das leuchtend blaue des Kaisers, der gönnerhaft schmunzelte, als sie eine Verbeugung andeutete, links davon zwei eisgraue Augen, deren kalter Blick ihr Schauer über den Rücken jagte – Bischof Konrad! Mit seiner Anwesenheit hatte sie nicht gerechnet. Und rechts vom Kaiser, hohlwangig und blass, lächelte Beatrix leicht bemüht. Judith erschrak. Beatrix musste jetzt dreiundzwanzig sein, doch sie wirkte um Jahre älter. Dunkle Schatten unter den müden Augen gaben ihr etwas Geisterhaftes. Hastig wandte sie den Blick ab und zwang sich, nach vorn zu sehen.
Dann verstummte die Orgel, und der Abt eröffnete den Gottesdienst. Sie nahm die Liturgie nur am Rande wahr, immer wieder schaute sie unauffällig nach oben, wo die Gewölbebögen der Vierung sich trafen. Der Steinmetz Thomas hatte recht behalten, das Wunder des Herrn, das die Stimme des Abts kreuz und quer durch die Kirche trug, funktionierte tatsächlich. Sie atmete tief den frischen Geruch der Mauern ein, der noch nicht vom
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