Das Geheimnis der Äbtissin
Bewohnern ausgetauscht wurde. Offenbar hatten sie strenge Anweisungen erhalten. Liebevoll gebundene Blumengirlanden rankten von Haus zu Haus. Der Duft der welkenden Blüten lag über dem muffigen Geruch der Armeleutehütten wie eine kostbare Decke auf einem alten Strohsack. Bunte Wimpel flatterten über den Köpfen der Durchziehenden. Die Mainzer gaben sich offensichtlich alle Mühe, dem Kaiser zu Willen zu sein und seinen Gästen einen gebührenden Empfang zu bereiten. Je weiter sie in die Stadt hineinkamen, desto größer und vornehmer wurden die Häuser. Die kleinen Holzhütten am Stadtrand wichen bald gänzlich festen Steinhäusern, deren Ladenluken im Erdgeschoss wie riesige Mäuler aussahen. Einige wenige waren sogar geöffnet, und ihre Besitzer boten den Durchreisenden köstlich duftendes Brot und kleine Pasteten an. Die Wirte der an der Durchgangsstraße liegenden Gasthäuser schenkten Bier und Wein aus. Zu gern wäre Judith abgesessen und hätte einen herzhaften Schluck von dem würzig riechenden Gerstenbräu probiert, doch fürchtete sie, die Gruppe von Ludwigs Hofdamen in dem Gewirr der Straßen zu verlieren.
Eine dicke Frau mit geschminkten Lippen bot Bänder und Haarschleifen an. »Kauft, edle Frauen, ihr werdet die Schönsten sein auf dem Hoftag unseres Kaisers. Seht hier, kostbare Seide aus dem fernen China!« Geschwind ließ sie leuchtende Stoffstreifen durch ihre Finger gleiten.
Die Damen umringten mit ihren Pferden im Nu die Auslage der Krämerin. Der Zug stockte. Hinter ihnen saßen die Knechte ab und kramten in ihren Taschen nach ein paar Münzen, um sich einen Krug Bier zu kaufen. Judith war hin- und hergerissen zwischen ihrem Durst und einem Band aus dunkelroter Atlasseide, das aus dem Bauchladen der Frau leuchtete.
»Was fällt dir ein, Weib!« Hufgetrappel und eine laute Männerstimme ließen sie zusammenschrecken. Ein Soldat der Stadtwache drängte sein Ross zwischen die Pferde der Damen. »Nur der Bäckerinnung und den Wirtsleuten ist heute Abend der Handel erlaubt!«
Die Frau raffte erschrocken ihre Ware zusammen.
»Siehst du nicht, dass du den ganzen Zug ins Stocken bringst?« Das Pferd tänzelte nervös und schob die dicke Krämerin in die Seitengasse ab. »Verschwinde, bevor du am Pranger landest!«
Judith staunte über die straffe Organisation. Im Nu kam der Tross wieder in Bewegung. Die großen, mehrstöckigen Steinhäuser, an denen sie jetzt vorüberritten, gehörten anscheinend Kaufleuten. Die oberen Stockwerke ragten über die Straße, aus den geöffneten Fenstern beugten sich Frauen mit vornehmen Hauben auf den Köpfen und beobachteten neugierig die vielen Fremden, die in ihre Stadt strömten.
Sie überquerten einen großen Platz mit zahlreichen verhangenen Ständen, einem Brunnen und einem leerstehenden Pranger in der Mitte. Ein vager Duft nach Früchten, gebrannten Mandeln und Gewürzwein hing noch in der Luft. Offensichtlich wurde hier tagsüber Markt abgehalten. Einige Ritter ließen ihre Pferde tränken, so dass es erneut eine Verzögerung gab. Am beinahe schwarzen Himmel glitzerten erste Sterne. Der weitere Weg führte sie in eine Gegend, wo die Häuser wieder kleiner und die Gassen schmutziger wurden. Ärmliche Hütten kündeten vom Stadtrand. Schließlich schnupperten sie frische, kühle Luft und Fischgeruch.
»Der Rhein! Dort vorn ist der Rhein!«, hörte sie jemanden rufen.
Das Wasser des breiten Flusses funkelte im Licht Tausender Fackeln und Öllampen. Judith hielt den Atem an. Auf einer großen Uferwiese breitete sich eine Stadt voller weißer Zelte aus. Bunte Fahnen und Wimpel flatterten im Wind, ein Gewirr unzähliger Stimmen hing über dem Lager, vermischte sich mit Lautenklängen und Gesang, Gelächter, Hundegekläff und dem Rauch zahlreicher Feuer.
Wieder gab es eine kurze Pause, in der sie im Sattel saßen und staunend auf dieses Wunder hinabblickten. Dann fand sich ein Hofmeister, der ihnen ihr Quartier anwies. »Hier entlang, bitte folgt mir!« Sie bekamen am östlichen Rand des Lagers einige Zelte zugewiesen, die Edelfrauen verteilten sich gackernd. Zwischen den großen Leinenbehausungen, die Friedrich eigens für seine Gäste hatte errichten lassen, war Platz genug für die bunten Zelte der Bediensteten, die eilig von den Trosswagen abgeladen wurden. Pferdeknechte nahmen den Ankommenden die Reittiere ab, tränkten sie und brachten sie auf umliegende Koppeln.
Erneut bewunderte Judith die sehr gute Organisation. Die Leute des Kaisers waren überall
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