Das Geheimnis der Äbtissin
seiner Frau sowie die Magd Gerlind erkennen. Die sonore Stimme des neuen Erzbischofs war anscheinend auch im Untergeschoss gut zu hören. Sie sah die Bauern zufrieden nicken. Zwar verstanden sie die lateinischen Worte nicht, doch die Litanei des Kyrie eleisons war ihnen vertraut. Im Obergeschoss schritt der Bischof nach einem Fürbittengebet zum Altar und schob unter Anrufung von Peter und Paul das kostbare Reliquiar aus Gold in die rechteckige Öffnung an der Vorderseite des Tisches. Es enthielt ein winziges Stück Stoff vom Gewand des Petrus sowie eine Haarlocke vom heiligen Paulus und war schon vor dem Umbau der Kapelle im Altar gewesen. Ihr Vater hatte sich lediglich dazu durchgerungen, ein neues Reliquiar anfertigen zu lassen. Dann begann Bischof Christian das Paternoster zu beten, und die Gemeinde fiel ein. Ergriffen lauschte Judith der tragenden Kraft der vielen Stimmen, die sich über zwei Geschosse in dem Gotteshaus vereinten. Sie sah hinüber zu ihrem Vater. Sein Gesicht verriet keine Regung, doch seine Hände, die er zum Gebet gefaltet hatte, zitterten leicht. Beringar zwinkerte ihr zu und zog eine Grimasse. Schnell senkte sie den Blick und verkniff sich ein Lachen. Dieser Bengel wurde nie erwachsen.
Der Erzbischof besprengte nun den Altar mit Weihwasser und salbte ihn mit Chrisamöl. Tief atmete sie den intensiven und besänftigenden Geruch nach Balsam ein. Die Magd Gerlind stand mit geschlossenen Augen. Ob das Gesinde unten den Duft auch wahrnehmen konnte? Inzwischen hatte der Pater mit einem Fidibus drei große Kerzen entzündet, über denen der Erzbischof Weihrauch verbrannte. Dazu sprach er das Weihegebet und bat Gott sowie die beiden Schutzpatrone um den Segen für den Altar und die neue Kapelle. Alle fielen ein, als er seine Stimme zum Großen Lobgesang Gloria in excelsis Deo erhob. Die Töne der Orgel wirkten beinahe hilflos neben dem begeisterten Gesang der vielen Menschen.
Zum anschließenden Taufgottesdienst führte der Burgpater den Bischof durch die angrenzende Kemenate nach unten, denn der uralte Taufstein war an seinem ursprünglichen Platz im Erdgeschoss geblieben. Konrad als Bauplaner war folgerichtig davon ausgegangen, dass das Gesinde wesentlich häufiger von ihm Gebrauch machen würde als die Grafenfamilie. Judith und ihr Vater folgten den Eltern durch die Gasse, die das Gesinde bildete. Das Neugeborene hatte vor vier Wochen eine einstweilige Taufe erhalten, in der es den Namen seiner Urgroßmutter Adelheid bekam. Heute wollte Ludwig die Möglichkeit nutzen, sein erstes Kind noch einmal von einem Erzbischof segnen zu lassen. Dem Kind schien die Ehre bewusst, denn es betrachtete den Geistlichen mit großen Augen, selbst bei der Berührung mit dem kühlen Wasser kam kein Laut über seine Lippen. Der Sohn des Mundschenks dagegen, der im Anschluss von Pater Martinus getauft wurde, schrie aus Leibeskräften, als wollte er gegen diese ungleiche Behandlung protestieren.
Als die Gäste aus der Kirche traten, hatte der Regen aufgehört, die Sonne lugte zwischen den Wolken hervor und legte Feierstimmung auf die Gesichter. Seit zwei Tagen hatte es in der Küche gebrutzelt, geschmort und geköchelt, war der Backofen nicht ausgekühlt. Jetzt wurde aufgetafelt und ausgeschenkt. Noch viele Wochen erzählten die Leute der umliegenden Dörfer von den schmackhaften Speisen, den auserlesenen Weinen und dem kräftigen Bier anlässlich dieses Kirchweihfestes.
»Eschwege, Mai 1184. So viel Regen hat der Herr uns dieses Frühjahr beschert, dass die sanften Biegungen der Werra es kaum schaffen, das Wasser wegzubringen. Die Beete in unserem Garten bestehen nur noch aus Schlamm, das Saatgut wurde herausgespült und ist für immer verdorben. Niemand weiß, wann wir erneut säen können und ob die Ernte dann rechtzeitig eingebracht werden kann. Dem heiligen Florian sei Dank, dass ich letzten Herbst Anweisung gab, mehr Erbsen und helle Bohnen einzulagern, als unter normalen Umständen nötig gewesen wäre. So müssen wir wenigstens nicht das überteuerte Saatgut vom Eschweger Markt kaufen. Dem wackeren Müller hat das plötzliche Hochwasser das Wehr zerstört, er musste sein Rad stilllegen, und unser Mehl wird knapp. Der Windmüller hinter Mülhusen treibt seine Preise derart in die Höhe, dass es eine wahre Schande für einen gottesfürchtigen Menschen ist.
In den letzten Wochen sind fünf junge Novizinnen eingetroffen. Sie fügen sich recht unbeholfen in unseren Alltag. Beinahe jeden Tag gibt es
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