Das Geheimnis der Äbtissin
neue Aufregungen. Und nun muss ich auch noch die Reise nach Mainz antreten, der Kaiser lädt zum Hoftag. Seine beiden Söhne Heinrich und Friedrich sollen die Schwertleite erhalten. Als Äbtissin des Cyriakusstifts bin ich verpflichtet, ihm die Ehre zu geben. Ludwig und Beringar sind auch dabei, was eine Freude für mich ist. Seit Vater starb, führt Ludwig die Grafschaft. Das erleichtert mir die Zusammenarbeit, denn Vater – Gott sei seiner Seele gnädig – hat mir mit seiner Knauserigkeit oft Schwierigkeiten bereitet.
Wir reiten im Gefolge unseres Landgrafen Ludwig. Hoffentlich sind die Furten passierbar. Ich bin das Reisen nicht mehr gewohnt, schon gar nicht bei nassem Wetter, doch andererseits bin ich zu stolz, um in einen Wagen zu steigen. Mit vierzig bin ich wohl noch in den besten Jahren. Der Herr vergebe mir meine Eitelkeit, ich will unbedingt auf einem edlen Lare’schen Hengst an Friedrich vorüberreiten. Der Stallmeister von Lare hat mir letzte Woche einen Rappen geschickt, der seinem Namen Bellus viel Ehre macht. Der Kaiser ruft, und alles, was Beine hat, zieht nach Mainz.«
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Mainz, Pfingsten anno 1184
D ie Stadt ist in Sicht! Seht, dort vorn!« Ein Pferdeknecht aus der vorderen Gruppe ritt auf einem Packpferd am Zug entlang, um die freudige Nachricht zu verkünden.
Judith richtete sich stöhnend im Sattel auf und schirmte ihre Augen mit der Hand ab. Eine Handbreit unter der jetzt schnell sinkenden Sonne erkannte sie spitze Türme am Horizont, die wie Wolfszähne in den Himmel ragten. »Gelobt sei Jesus Christus!«, murmelte sie. In den letzten Tagen hatte sie mehrfach im Stillen ihren Ehrgeiz verflucht, auf dem Pferd zu reisen. Jeder Knochen im Leib tat ihr weh. Der junge Hengst verschaffte ihr zwar manch neidischen Blick, doch ging er noch sehr holperig und war nicht leicht zu führen. Zum Glück war das Wetter wenigstens erträglich gewesen, die Luft war mild, und es regnete nicht mehr. Heute hatte die Sonne das frische Grün der Büsche und Bäume zum Leuchten gebracht und einen roten Schimmer auf die winterbleichen Gesichter der Hofdamen gelegt.
»Ob der Landgraf weiterreiten lässt? Wir werden sicher nicht vor Sonnenuntergang dort sein.«
»Unmöglich können wir in der Stadt im Dunkeln unser Quartier finden.«
»Wollt Ihr lieber noch eine Nacht in diesem muffigen Zelt schlafen?«
»Was glaubt Ihr denn, wo Ihr in Mainz übernachten werdet? Dazu sind die Zelte doch mitgenommen worden.«
Aufgeregte Stimmen schwirrten durch die Luft. Sie hatte sich einer Gruppe von Edelfrauen angeschlossen, die zum Hof des Thüringer Landgrafen Ludwig gehörten. Besonders die dicke Witwe des Grafen von der Rothenburg suchte abends immer wieder ihre Nähe. Tagsüber reiste sie im Wagen, was Judith im Stillen begrüßte, denn so konnte sie die Häufigkeit dieser Gesellschaft selbst dosieren. Der Zug aus Reitern, Planwagen und Packtieren bewegte sich seit vier Tagen wie eine riesige Schlange durch die Landschaft. Allein an die tausend Ritter gehörten zum Gefolge des Landgrafen, darunter auch ihre Brüder Ludwig und Beringar. Dazu kamen Mönche und Nonnen, edle Damen, Knappen, Musiker und Bedienstete. Schon auf dem Sammelplatz unterhalb der Wartburg wurde die Menschenmenge auf zweitausend Leute geschätzt. Unterwegs hatten sich noch Spielleute vom Eichsfeld und einige andere Nachzügler angeschlossen. Es war eine lustige Reise gewesen, es wurde gesungen und gescherzt, und wenn sie abends das Lager aufschlugen, gaben die Gaukler und Musikanten ihr Bestes, um die Leute zu unterhalten.
Doch nun rückten die Stadtmauern näher, und gespannte Erwartung legte sich über die Reisenden. Die müden Pferde schritten wieder kräftiger aus, als würden sie bereits die sattgrünen Koppeln und die Haferraufen wittern. So erreichten sie das weit geöffnete Stadttor mit einbrechender Dunkelheit.
Die Wachen waren wohl angewiesen, zügig abzufertigen, denn sie winkten den langen Strom der Reiter und Wagen nur gelangweilt weiter. Ehrfürchtig betrachtete Judith die mächtigen Mauern der Stadt. Von der Zerstörung durch Friedrichs Männer vor einigen Jahren war nichts mehr zu erkennen. Trutzig und fest ragten sie empor, immer wieder unterbrochen von klotzigen Wehrtürmen. Einzelne behelmte Köpfe hoben sich auf den Zinnen vor dem Himmel ab, der sich gerade mit grauer Dämmerung überzog.
Die engen Gassen der Stadt waren mit unzähligen Fackeln beleuchtet. Sie beobachtete, wie eine verloschene Fackel sofort von den
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