Das Geheimnis der Äbtissin
zur Stelle, um einzuweisen, Wasser zu bringen oder beim Zeltaufbau behilflich zu sein. Sie sah sogar zwei Knechte einen hölzernen Badezuber vorüberschleppen.
Sie suchte sich eine Bettstatt an der Zeltwand aus und verstaute ihre geringe persönliche Habe darunter. Während die Erfurter Frauen schwatzend auf ihren Lagern saßen, warf sie sich einen Umhang über und verließ die Unterkunft. Neugier und eine seltsame Unruhe trieben sie hinaus. Zwischen all den Herbergen aus grobem Leinen herrschte lebhaftes Treiben. Niemand schien an Schlaf zu denken. Hier saß eine Gruppe von Männern beim Würfelspiel, dort lauschte ein Dutzend Damen andächtig einem Sackpfeifenspieler, der mit seinem Arm den Balg malträtierte und dem Instrument eine traurige Melodie entlockte. Ein Gaukler jonglierte mit Äpfeln, daneben stand ein buntgekleideter Narr auf einer Kiste und gab seine Witze zum Besten. Einige junge Ritter übten sich hinter ihrem Zelt im Schwertkampf. Über einem leuchtend roten Glutbett drehte sich ein halber Ochse, kauend und gestikulierend saßen zahlreiche Leute auf Bänken in der Nähe. Mägde huschten dazwischen mit Weinkrügen umher und schenkten nach.
Beim Anblick des knusprigen Ochsenfleisches lief Judith das Wasser im Mund zusammen. Seit der letzten Rast am Mittag hatte sie nichts mehr gegessen. Sie kramte eine Münze aus dem Beutel am Gürtel, ließ sich ein Stück von der Keule abschneiden und nahm einen Kanten Brot dazu. Vorsichtig knabberte sie an dem heißen Fleisch und ging weiter die Zeltstraße hinunter.
Sie merkte bald, dass das Lager sternförmig angelegt war und alle Straßen auf einen zentralen Platz zuliefen. Die Zelte wurden hier größer und prächtiger, einige hatten bis zu vier Hauptstangen und hätten mühelos eine kleine Pferdeherde beherbergen können. Auch das Zelt ihres Landgrafen war darunter, sie erkannte das flatternde Wappen auf der Spitze des Mittelmastes. Überall standen Wachen mit Lanzen und musterten sie kritisch. Dann stockte ihr Schritt. Sie hatte das Zentrum erreicht. In der Mitte der Zeltstadt war eine kreisförmige Siedlung aus Holzhäusern errichtet worden, beinahe eine kleine Pfalz. Solide Wohnhäuser aus glatt gehobelten Brettern, dazwischen offensichtlich eine Kapelle, in deren Dachreiter eine kleine Glocke hing, weiter rechts fiel ihr Blick auf einen flachen Bau, offenbar eine Festhalle. Das größte der Häuser war weiß gestrichen und fast so groß wie der Palas auf Lare. Über seinem Schindeldach wehte das goldene Banner des Kaisers mit dem schwarzen Adler. Vor dem Portal stützten sich zwei Wachen auf ihre Hellebarden, hinter den Fenstern flackerte helles Licht. Gedämpfte Musik von Sackpfeifen und Fideln drang heraus. Sie stand und schaute, von dem Fleisch in ihrer Hand tropfte der Saft. Wo mochte Silas untergebracht sein? Hier gab es bestimmt keine Pferdeställe, also würde er in der Nähe der Koppel …
»Ehrwürdige Schwester, habt Ihr Euch verlaufen?« Sie zuckte zusammen. Diese näselnde Stimme! Ein junger Reiter beugte sich von seinem Pferd herab und sah sie fragend an. Zwei eisgraue Augen musterten sie kühl. Wenn nicht gerade erst zarter Flaum auf seinen Wangen zu sehen gewesen wäre, hätte sie geglaubt Bischof Konrad gegenüberzustehen.
»Nein, junger Herr. Ich war versunken im Anblick der schönen Häuser.«
»Habt Ihr keinen Diener? Ihr solltet nicht allein durch die Zeltstadt wandeln. Nicht des Nachts!«, sagte der Halbwüchsige großspurig, stieß seinem Pferd die Fersen in die Weichen und sprengte hinüber zu dem weißgetünchten Gebäude. Dort sprang er aus dem Sattel und eilte zur Tür. Der Wachsoldat verneigte sich tief, bevor er sie aufriss. Wie aus dem Nichts tauchte ein Pferdeknecht auf, der den Gaul wegführte.
»Einen netten Sohn habt Ihr da, Beatrix«, murmelte sie sarkastisch und wandte sich um. »Von wem hat er wohl diese kalten Fischaugen?« Sie steckte den letzten Bissen Fleisch in den Mund und leckte sich die Finger ab.
Auf dem Weg zurück nahm sie eine andere Straße, um möglichst viel von der kleinen Stadt zu sehen. Dabei bemerkte sie einen strengen Geruch, der aus einem der Holzhäuser zu kommen schien. Er kam ihr merkwürdig bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht zuordnen. Neugierig geworden, ging sie auf das Haus zu. Erst jetzt sah sie den Wächter, der sich bei ihrem Näherkommen aus dem Schatten der Eingangstür herausbewegte und deutlich sichtbar seine Hellebarde vor sich trug.
»Was bewachst du hier?«, fragte sie
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