Das Geheimnis der Äbtissin
diesjährige Turnier fand erst zum Abschluss des Hoffestes in zwei Tagen in Ingelheim statt, wo ein größerer Reitplatz vorbereitet wurde. Dort sollten sich die beiden Königssöhne zum ersten Mal mit Schwert und Lanze in der Öffentlichkeit beweisen.
Vor der Tafel stellten Schausteller zwei Weinfässer auf, die mit einem stabilen Deckel versehen waren. Ein buntgekleideter Ausrufer kündigte eine große Sensation an. »Die schöne Simona wandelt für alle unsichtbar!«
Es wurde ruhiger an den Tischen, gespannt warteten die gesättigten Gäste auf den nächsten Höhepunkt. Eine dunkelhaarige schlanke Schönheit tanzte zum Rhythmus einer Trommel zwischen den Fässern. Sie war noch jung, und die Augen der hohen Herren am Tisch blitzten begehrlich auf.
Der Gaukler bat um Hilfe aus dem Publikum, und der junge Friedrich sprang eilig auf. Unter vielen Worten und Gesten durfte er das Mädchen aufheben und in das linke der beiden Fässer setzen, die in gehörigem Abstand voneinander standen. Dann hieß ihn der Gaukler den Deckel auflegen und mit einem starken Eisenriegel verschließen. Aus dem Hintergrund tauchte ein Feuerspucker auf. Unter lodernden Flammen und Trommelwirbel verkündete der Ausrufer, dass die schöne Simona eben in diesem Moment sich aus dem einen Fass in das andere begebe, ohne dass sie für menschliche Augen sichtbar sei. Die Zuschauer murmelten ungläubig. »Das wollen wir sehen, macht das rechte Fass auf!«, rief König Heinrich laut.
»Vielleicht möchte der hohe Herr dies selber tun?«, fragte der Gaukler.
Heinrich erhob sich bereitwillig, und die Menge verstummte. Das rechts stehende Fass war ähnlich fest verschlossen wie das linke. Heinrich schob den schweren Riegel beiseite. Sein Bruder, der noch vorn stand, reckte neugierig den Hals. Gespannt hob der junge König den Deckel, beugte sich vor und riss die Augen auf. Dann streckte er seinen Arm aus und zog unter dem Jubel der Zuschauer das dunkelhaarige Mädchen heraus. Alle staunten und klatschten und forderten eine Zugabe, die der Gaukler jedoch wortgewandt abwehrte. Simona entwand sich Heinrichs Händen und verschwand hinter dem Feuerschlucker in der Dunkelheit.
Judith grinste in sich hinein. Im Gesicht des Mädchens hatte sie unverkennbar Hanimas Züge wiedergefunden. Es musste sich also um eine ihrer Zwillingstöchter handeln, deren Schwester mit Sicherheit noch im ersten Fass hockte, das gerade abtransportiert wurde.
Als sie sich kurze Zeit später erhob, um schlafen zu gehen, stand Beatrix plötzlich vor ihr. Sie konnte nicht sagen, ob es Zufall war oder ob die Kaiserin diese Begegnung provoziert hatte.
»Judith! Wir hatten noch keine Gelegenheit zu reden. Geht es dir gut?«
»Danke, Durchlaucht. Ich bin zufrieden.« Kam jetzt wieder die besorgte Anfrage nach ihrem Glücklichsein?
»Wir hören nur Gutes von deinem Damenstift. Was wahrlich nicht selbstverständlich ist in diesen Zeiten. Falls du einmal Unterstützung brauchen solltest, scheue dich nicht, uns zu bitten.«
Erneut verneigte sich Judith und bedankte sich. Mittlerweile stand auch sie vor der Frage: Was will sie?
Als Beatrix wider Erwarten schwieg, musste sie schließlich reagieren. »Ihr seht gesund aus, Durchlaucht, wenn es mir gestattet ist, das zu sagen. Ihr habt Euch wirklich gut erholt von all Euren Schicksalsschlägen.«
Beatrix nickte lebhaft. »Ja, da hast du recht. Ich habe dem Kaiser prächtige Söhne und Töchter geboren, mehr wollte ich nie. Nun bin ich am Ziel, meine beiden Jungen werden morgen ihre Schwertleite erhalten. Ich bin glücklich, und niemand wird mir das zerstören.«
Aha, da war die Katze aus dem Sack und fuhr auch sofort die Krallen aus. »Ich bin sicher, Durchlaucht, dass das niemand vorhat«, entgegnete sie ruhig.
»Dann ist alles gut. Ich wünsche dir weiterhin ein vergnügliches Fest.« Damit drehte Beatrix sich um und nahm zwischen ihrem Gemahl und ihren Söhnen an der Tafel Platz.
Judith schlief auch in dieser Nacht unruhig. Die Witwe auf dem Lager neben ihr schnarchte laut. Im ersten Morgengrauen, die Mägde liefen schon mit Wassereimern zum Rhein, nahm sie plötzlich einen betörend aromatischen Duft wahr, den sie zunächst nicht einordnen konnte. Schließlich erkannte sie in der Dämmerung einen öligen Fleck auf dem Zeltleinen direkt über ihr, der sich langsam vergrößerte. Etwas stark Riechendes tropfte auf das Dach. Leise erhob sie sich, wickelte sich in ihren Umhang und schlich hinaus.
Der Schatten des Zeltes erschwerte ihr
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