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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marie Jakob
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Sie spitzte die Feder mit einem kleinen Messer und begann von vorn die Zahlenreihen zu summieren. Hinter sich hörte sie ein metallisches Klicken und einen überraschten Pfiff.
    Sie fuhr herum. »Was ist?«
    »Ich glaube …« Der Goldschmied holte tief Atem. Es klickte noch zweimal leise, dann ein lauteres Klacken, und der Deckel sprang einen Fingerbreit nach oben. Im letzten Moment griff er nach der Öllampe. Ein Stichel rollte scheppernd herunter.
    »Wartet!« Sie fiel ihm in den Arm, als er sich anschickte, den Deckel zu heben.
    »Oh, verzeiht, natürlich.« Er lief rot an und machte einen Schritt zurück.
    »Lasst Euch in der Küche eine ordentliche Mahlzeit geben.«
    Als die Tür hinter ihm zufiel, griff sie nach dem Deckel und hob ihn langsam an. Er war schwer, viel schwerer, als sie vermutet hatte. Sie sah an seiner Unterseite einen komplizierten Mechanismus aus Zahnstangen und Bolzen, die ineinandergriffen und vor Fett glänzten. Ein seltsamer Geruch schlug ihr entgegen, metallisch und ölig und irgendwie süßlich.
    Sie leuchtete mit der Lampe ins Innere. Weißes Linnen verdeckte den Inhalt der Kiste. Vorsichtig zupfte sie an der oberen Schicht und faltete die Lagen auseinander. Sie stieß auf einen kleinen goldenen Kasten, der mit zahlreichen Steinen belegt war. Rote und grüne meisterhaft geschliffene Edelsteine funkelten im Licht der Öllampe.
    Zaghaft griff sie nach dem Kleinod und trug es zum Tisch. Es war mit einem schmalen Haken verschlossen, der nicht zusätzlich gesichert war. Sie zog ihn aus der Öse und öffnete das Kästchen. Der merkwürdige Geruch verstärkte sich, dumpf und schwer drang er in ihre Nase. Weihrauch? Er ging von einem Klumpen aus, der in helle, ölige Tücher bandagiert war. Sie bekreuzigte sich und ließ den Deckel fallen.
    Silas hatte ihr gesagt, dass das menschliche Herz dem Schweineherzen sehr ähnlich sei. So kannte sie die Form und auch die Größe. Warum war sie jetzt nicht zufrieden? Irgendetwas bohrte in ihr. War es ihre Neugier als Heilerin? Oder war es dieser seltsame Traum in der Nacht? Sie fasste nach dem Kreuz an ihrem Hals. Beherzt öffnete sie den Kasten erneut und nahm den Klumpen heraus. Der Stoff war dicht gewickelt, sie fand keinen Anfang und kein Ende. Doch auf dem Tisch lag das kleine Federmesser. Vorsichtig hob sie damit eine dünne Lage der Bandage an und durchtrennte sie. Nun ging alles ganz schnell. Schicht für Schicht wickelte sich ab, und dann hielt sie das feste Stück Fleisch in der Hand, das viele Jahre in der Brust des Kaisers geschlagen hatte. Sie merkte jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte, und atmete geräuschvoll aus.
    »Vergebt mir, Friedrich!«, flüsterte sie. Das Herz war dunkel, fast schwarz und schien klein in ihrer Hand, als wäre es geschrumpft. Das konnte vielleicht durch die Einbalsamierung geschehen sein. Als sie es drehte, stutzte sie plötzlich. Auf der glatten Oberfläche des runden Muskels entdeckte sie etwas, das dort nicht hätte sein dürfen. Etwa zwei Finger breit waren die Fasern durchtrennt, wie ein Federstrich zog sich der Schnitt gerade über die glänzende Außenhaut. »Herr im Himmel! War es das, was ich finden sollte?« Sie setzte sich auf ihren Hocker und starrte auf ihre Entdeckung. »Ein Messerstich im Herzen des Kaisers?«
    Sie zuckte zusammen, als sie Schritte auf der Treppe hörte. Hastig und nur oberflächlich wickelte sie das Herz in die Ölbandagen, verstaute es in dem goldenen Kasten und warf eines der Leinentücher darüber.
    »Mutter Oberin?« Die Stimme von Schwester Uta, gleich darauf ein Klopfen. »Ich bringe Euch das Essen. Die Priorin meinte, Ihr würdet heute nicht herunterkommen.«
    Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und nahm der Schwester den Korb ab, aus dem es nach Pastinaken und gebratenen Zwiebeln duftete. »Danke, Schwester Uta. Ich habe viel zu tun. Bitte schicke mir den Goldschmied wieder herauf, wenn er in Ruhe gegessen hat.« Sorgfältig schloss sie die Tür und stellte den Korb achtlos beiseite. Hunger hatte sie gewiss nicht.
    Sie nahm die Leinentücher aus der Truhe und untersuchte den Boden gründlich. Erst nachdem sie die Öllampe hineingestellt hatte, entdeckte sie an der Seite eine winzige Vertiefung, die auf den ersten Blick wie ein kleiner Fehler des Schlossermeisters aussah. Doch als sie mit dem Fingernagel darunterhakte, hob sich eine dünne Bodenplatte und gab ein schmales Fach frei, in dem ein leicht beschädigtes Pergament lag.
    »Sieh an!«, murmelte sie, legte das

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