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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marie Jakob
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Zelle. »Meister, seht Euch diese Kiste an. Sie ist ein Geschenk, und ich kann sie nicht öffnen.« Sie zog die Decke vom Sarg herunter.
    Der junge Mann, er war etwa im selben Alter wie Heinrich, kniete nieder. »Warum habt Ihr nicht nach einem Schlosser geschickt?«
    »Ich weiß, dass Ihr sehr geschickt seid. Ihr habt das neue Reliquiar für uns gefertigt.« Sie trat näher an ihn heran und sprach leiser. »Könnt Ihr lesen?«
    »Ja, ehrwürdige Mutter. Mein Onkel ist Priester, er brachte es mir bei.«
    »Gut. Ich möchte, dass Ihr später eine Geschichte auf diese Truhe graviert. Es darf aber niemand davon wissen. Ihr scheint mir verschwiegen zu sein. Der Schlossermeister aus Eschwege dagegen ist ein Schwätzer und Trunkenbold.«
    Er sah sie zweifelnd an und beugte sich dann wieder über die Kiste. Nach ein paar Handgriffen ließ sich eine Metallplatte auf dem Deckel beiseiteschieben, und es kam ein Schlüsselloch zum Vorschein.
    »Seht Ihr!«, triumphierte Judith.
    »Davon haben wir noch immer keinen Schlüssel«, gab der junge Goldschmied zu bedenken. »Ich müsste die Kiste mit in meine Werkstatt nehmen, dort könnte ich …«
    »Das kann ich leider nicht zulassen. Sie ist zu wertvoll«, fiel sie ihm ins Wort. Als er sie verwundert ansah, fügte sie hinzu: »Der Inhalt, wisst Ihr?«
    »Dann würde ich gern mein Werkzeug holen. Soll ich hier an Ort und Stelle arbeiten?«
    »Ja. Die Truhe darf die Zelle nicht verlassen.«
    Nach einem weiteren skeptischen Blick nickte er und erhob sich. »Ich will es probieren. Morgen früh fange ich an.«
    In dieser Nacht schlief Judith sehr schlecht. Unruhig wälzte sie sich auf ihrem Lager hin und her. Ein Knarren ließ sie auffahren. Kerzenlicht flackerte über die Wände. Sie hatte die Flamme doch ausgeblasen. Mit Entsetzen sah sie, dass der Deckel der Truhe hochgeklappt war. Neben ihr stand der Kaiser. Er trug einen schmutzigen und abgerissenen purpurnen Umhang. Sein Gesicht war so dunkel wie frische Erde, verbrannt von zu viel Sonne und voller Staub. Sie wollte aufstehen, doch sie konnte sich nicht rühren.
    »Du hast mein Vermächtnis in der Hand, Judith!«, sagte er zu ihr. »Was du auch tust, denk an das Heilige Römische Reich!«
    Aus der Finsternis hinter ihm trat Beatrix, in weißen Brokat gehüllt und mit einer schweren Krone auf dem hellen Haar. »Wem nützt es, was du tust?«, flüsterte sie, bevor sie wieder verschwand.
    Judith fuhr voller Entsetzen hoch. Es war stockfinster. Mit zitternden Fingern tastete sie nach der Kerze. Sie brauchte eine Weile, um eine Flamme zu entzünden. Sie stand auf und ging zur Truhe. Die war verschlossen, das Schlüsselloch versteckt unter dem Metallklotz. Hastig zerrte sie das bestickte Tuch wieder darüber und schlug ein Kreuz. Ihr Nachtkleid war feucht von Schweiß, und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Schließlich nahm sie das goldene Kruzifix, Friedrichs Geschenk vom Mainzer Hoffest, von der Wand und legte es auf die Kiste. Zurück auf ihrem Lager, war an Schlaf nicht zu denken. Sie zog das nasse Hemd aus, schlüpfte in ihr Habit und betete bis zum Morgengrauen. »Vater im Himmel, Herr Gott, Du hast mir diese Truhe gesandt. Jetzt bitte ich Dich um Kraft, die richtige Entscheidung zu treffen.«
    Nach dem Morgengebet beauftragte sie die Priorin, die restlichen Stundengebete des Tages zu leiten. Der Goldschmied traf auf einem Esel ein, der mit Werkzeugkörben beladen war. Während sie die Lohnabrechnungen schrieb und die Pfennige für die Knechte abzählte, stocherte der Goldschmied geduldig mit feinen Sticheln in dem Schlüsselloch herum. Das trübe Licht, das durch die kleinen Scheiben ihres Fensters drang, reichte längst nicht aus. Vier Öllampen erhellten die Ecke der Zelle. Eine stand direkt auf dem Deckel des Herzsarges. Ab und zu schüttelte er den Kopf und kramte zwischen seinen Werkzeugen. Dann beugte er sich wieder über den Mechanismus. Die Glocken riefen zur Terz, und sie hörte die Schwestern schwatzend über den Hof eilen. Sie griff nach der Liste der Brennholzlieferungen. Hinter ihr klapperten die Gerätschaften. Der Goldschmied erhob sich und rieb sich seufzend die Beine. Sie sah ihn fragend an, und er zuckte mit den Schultern, bevor er sich wieder an die Arbeit machte.
    Die Schwestern kamen aus der Kirche und eilten an ihre tägliche Arbeit in die Küche, ins Backhaus und in die Nähstube. Judith hatte sich verrechnet und fand den Fehler nicht. Am Ende ihrer Tabelle stand mehr Brennholz, als vorhanden war.

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