Das Geheimnis der Äbtissin
die Gliedmaßen abzutrennen und die Wunde zu versorgen. Sie zog ein schmales Tuch aus ihrer Tasche und band es fest um den Oberarm des Knechts. Bisher war nicht viel Blut geflossen, sicher waren die meisten Adern durch die Quetschung verschlossen worden.
»Kannst du aufstehen?«, fragte sie den Jungen. Der blickte sie aus leicht glasigen Augen verständnislos an. Gemeinsam mit Berthold zerrte sie den Verletzten an den Wegrand unter den Felsvorsprung, von dem aus sie eben noch die Murmeltiere beobachtet hatten.
»Würdet Ihr ihn ablenken?«, murmelte sie und kramte in ihrer Tasche nach einem Messer.
Er nickte und fragte den Jungen nach seiner Herkunft und seiner Familie.
Judith hantierte zügig und ohne nachzudenken. Noch stand der Junge unter Schock und würde keine Schmerzen spüren. Sie legte seine Hand auf einen glatten Stein und setzte sich so, dass der Verletzte nichts von dem sehen konnte, was sie tun musste.
Einen kurzen Moment zögerte sie, während der Herzog hinter ihr immer schneller redete. Dann hörte sie eine vertraute Stimme in ihrem Hinterkopf: »Stellt Euch vor, es ist ein Stück Schweinehaut.« Beherzt fasste sie das Messer und schnitt. Die Fingerknochen waren so stark gesplittert, dass sie keinen ernsthaften Widerstand spürte. Sie legte das Messer beiseite und griff nach Nadel und Faden.
»Das Nähen wird etwas dauern, versucht ihn ruhig zu halten«, sagte sie über ihre Schulter hinweg. Sie fand den erstaunten Blick des Herzogs, der die blutigen Reste auf dem Stein vor ihr fixierte.
»Wo habt Ihr das gelernt?«, ächzte er.
»Beim Leibarzt des Kaisers.«
Ein älterer Wagenknecht stand abseits und beobachtete händeringend ihr Tun.
»Stehst du ihm nahe?«, fragte sie ihn. Der Grauhaarige nickte hastig. »Er ist der Sohn meiner Schwester. Gott steh uns bei!«
»Dann löse den Herzog ab. Halte den Jungen, bis ich fertig bin.«
Berthold kam auf die Beine und trat einige Schritte zurück. »Kann ich noch etwas tun?«
Judith deutete mit einer Kopfbewegung auf die abgetrennten Finger. »Lasst sie vergraben, bevor er sie sieht. Und trefft eine Entscheidung, was mit ihm geschehen soll. Im Tross wird er vorläufig nicht arbeiten können.«
Nachdem sie die Wunden mit Salbe versorgt und verbunden hatte, ließ sie sich ihr Pferd bringen und ritt wieder nach oben. Der Wagen der Königin stand noch immer an derselben Stelle. Konrad und der Herzog stritten auf dem Felsvorsprung offensichtlich darüber, wie es weitergehen sollte.
»Es ist Wahnsinn, weiterzufahren! In einer Stunde ist es dunkel.« Berthold deutete nach Osten, wo der Horizont schon in matte Farben getaucht war. »Die Nacht kommt in den Bergen viel schneller.«
»Wollt Ihr die Königin hier in der Wildnis übernachten lassen? In einer Stunde kann ich mit der Vorhut in der Herberge sein«, fauchte Konrad und fuchtelte wütend mit den Händen.
»Ich lasse nicht zu, dass das Heer ohne seine Vorhut zurückbleibt. Seht dort drüben den Heuspeicher, dort werden wir die Königin unterbringen. Das ist sicherer, als allein in die Nacht zu reiten.« Berthold blieb kühl und bestimmt.
Der Bischof schnaubte, sein Gesicht war weiß vor unterdrückter Wut. Geistesabwesend musterte er Judith, die im selben Moment an ihm vorüberritt. Der Herzog wandte sich schulterzuckend ab und half ihr vom Pferd.
»Wir lassen den verletzten Jungen morgen in ein Kloster bringen, das einen Tagesritt von hier entfernt liegt«, erklärte er, während Konrad den Platz verließ. »Die Mönche werden ihn pflegen, bis er wieder reiten kann.«
Sie nickte. Das war sicher die beste Lösung.
Er winkte einem Knecht, der sich um die Stute kümmern sollte, und führte sie in Richtung Scheune. »Ihr habt viel für diesen einfachen Mann getan.«
Sie hob die Schultern. »Einfach? Der Sattel ist genauso viel wert wie das Pferd!«
»Ich habe keine Frau je so beherzt handeln sehen wie Euch. Wir haben Bader im Heer, wie Ihr wisst. Ich hätte nach einem schicken können. Doch Ihr habt mir die Zügel aus der Hand genommen …« Er blickte sie an, als würde er sich über sich selbst wundern. Seine Augen waren voller Wärme und sprachen ohne Worte weiter.
»Ich hatte einen guten Lehrer.« Sie versuchte in diesen Satz eine Botschaft zu legen, die er begreifen würde. »Ihr werdet ihn kennenlernen, wenn wir in Italien sind.«
Das Leuchten in seinen Augen verblasste leicht. »Ich bin gespannt«, murmelte er und wandte sich ab. Nachdenklich sah sie ihm hinterher. Er ging zu seinen
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