Das Geheimnis der Äbtissin
Immer wieder ließ sie zwischendurch ihre Stute satteln und ritt einige Meilen nebenher. Das Schaukeln des starren Gefährts verursachte ihr Übelkeit, und sie musste zu den Enzianvorräten greifen, die Bruder Gisbert ihr mitgegeben hatte. Bisher hatte sie selbst noch keinen Enzian gesehen, denn sie durfte sich nicht zu weit vom Tross entfernen. Mehrmals hatten Konrad und Herzog Berthold ihnen eingeschärft, vorsichtig zu sein.
»Die Italiener betrachten uns nicht als Landsleute, für sie sind wir Eindringlinge. Eine deutsche Geisel von vornehmer Herkunft wäre ihnen sicher höchst willkommen, um ihre verräterischen Interessen durchzusetzen«, erklärte Berthold am Morgen ihres Aufbruchs in Curia, bevor er sich an die Spitze des Zugs setzte.
Die Ritter der Vorhut wurden jeden Tag ausgewechselt. Sie mussten besonders wachsam sein. In strenger Ordnung folgten ihnen ein Teil der Leibwache der Königin und deren Reisewagen, der meist vom Herzog und seinen besten Offizieren begleitet wurde. Hinter ihnen rumpelte ein Gepäckwagen, der auch Proviant und Wein für die Königin enthielt. Es folgte der Rest der Leibwache, dann die Wechselpferde, die burgundischen Ritter und schließlich der Tross mit Köchen und Pferdeknechten, den Nahrungsvorräten, Ersatzwaffen, den Zelten, Werkzeugen und Ersatzrädern für die Wagen. Wenn Judith hinten aus ihrem schaukelnden Gefährt schaute, sah sie bis zur nächsten Wegbiegung eine Schlange aus Karren, Pferden und Soldaten, die nicht zu enden schien.
Sie waren an diesem Morgen noch nicht weit gekommen, da gabelte sich das Tal erneut. Am Zusammenfluss zweier Rheinarme gab es eine kurze Rast.
»Judith, schau nur, das Wasser hat verschiedene Farben!«, rief Beatrix.
Judith kletterte aus dem Wagen und ging zum Ufer. Der Flussarm, der aus den südlichen Bergen kam, führte helles, silbriges Wasser, der andere Teil strömte in düsterem Dunkelgrau vorbei. In der Mitte des Flusses gab es eine gerade Trennungslinie, als könnten die beiden Wasser nicht zusammenkommen.
»Wir müssen nach Süden«, vermutete sie.
»Ich fürchte, ja«, seufzte Beatrix und warf einen wehmütigen Blick zurück in das breite Tal des Rheins. »Irgendwann müssen wir über die Berge hinweg. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Die Stallknechte führten zusätzliche Gespanne zu den Wagen, denn der Weg wurde nicht nur schmaler, sondern auch steiler. Doch die Tiere waren kräftig und gut genährt, so dass der Zug zehn Meilen am Tag schaffen konnte.
Auch Beatrix hatte sich ihr Pferd satteln lassen. Das Reisen auf vier Rädern war auf diesen Wegen beinahe unmöglich. Die alte Pflasterung stammte noch von den Römern und war teilweise von Wurzeln aufgeworfen oder von Schlammlawinen vergraben worden. Da der Weg gut genutzt wurde, hatten sich stellenweise tiefe Gleise eingefahren, die es immerhin ausschlossen, dass ein Gefährt ausscherte und einen der steilen Abhänge hinabstürzte. Die Berge rückten Stunde um Stunde bedrohlich näher. Judith fragte sich bald, ob sie nicht irgendwann zwischen ihnen steckenbleiben würden. Der muntere Gebirgsfluss sprang mal an die linke, mal an die rechte Seite des Tals, das immer mehr die Gestalt einer Schlucht annahm. So mussten sie jedes Mal eine Brücke überqueren, um den schmalen Streifen Weg zu nutzen, den der Fluss übrig ließ. Trotz des sonnigen Wetters war es kühl und feucht zwischen den kahlen Felsen, auf denen lediglich dürre Fichten wuchsen. Mehrere Male fiel der Fluss einige Meter tief. Wilde Wasserfälle füllten dann die Schlucht mit Sprühregen und ließen die Kleidung klamm werden. Judith sorgte sich um Beatrix, der die Nässe jedoch nichts auszumachen schien. Immerhin fand sie hier den ersten gelben Enzian und pflückte eine Handvoll Exemplare, die sie unter der Wagenplane zum Trocknen aufhängte.
Am neunten Tag mussten sie den Seitenarm des Rheins verlassen. Hatte sie bisher geglaubt, mehr könne Tieren und Wagen nicht zugemutet werden, wurde sie eines Besseren belehrt. In engen Serpentinen ging es steil an der Flanke eines Bergmassivs hinauf. Auch hier gab der Bach den Weg vor, ein kleiner reißender Wasserlauf mit eiskaltem Wasser, der mal dicht neben der Straße hersprudelte und dann wieder von grob gezimmerten Brücken überquert wurde.
Von nun an mussten sie oft absitzen, um den Pferden den Aufstieg zu erleichtern. Die Stallknechte und Ritter halfen den Gespannen, indem sie die Wagen schoben. Ab und zu stockte der Zug, wenn die Vorhut Gerölllawinen
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