Das Geheimnis der Äbtissin
einen Tag Ruhe gönnen. Wir sind ohne Pause hierher unterwegs gewesen. Einige Pferde haben lockere Eisen, der Proviant muss erneuert werden.«
»Gut, also übermorgen?« Ihr Lächeln ließ nur eine Antwort zu.
»Wenn es Euer Wunsch ist. Ich habe mir erlaubt, einen Reisewagen für Euch und Eure Begleiterinnen mitzubringen. Er dürfte inzwischen im Klosterhof stehen. Ihr könnt morgen Euer Gepäck verladen lassen.«
Beatrix reichte ihm ihre Hand. »Ihr seid sehr umsichtig, Vetter.«
Bischof Konrad hatte während der Audienz stillschweigend am Fenster des Refektoriums gestanden. Judith sah, wie seine Miene sich verdunkelte, doch sie nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Zu überraschend war die Nachricht, dass die Reise über die Alpen in einem Wagen weitergehen sollte. Endlich keine wundgerittenen Oberschenkel mehr. Fast hätte sie laut gelacht vor Erleichterung. Für sie und die Königin bedeutete das warme Füße und trockene Kleider, gerade in der kalten Luft der Berge ein unschätzbarer Umstand.
Beatrix’ Freude war nicht so überschwänglich. »Wir werden viel langsamer vorankommen!«, maulte sie, nachdem der Herzog sich verabschiedet hatte.
»Ihr müsst an Eure Gesundheit denken. Wie wollt Ihr dem Kaiser mit einer Blasenentzündung Freude bereiten?«, entgegnete Judith schlau.
Beatrix nickte widerwillig. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Torturen des Rittes hierher. »Du hast natürlich recht. Außerdem müssen wir in Italien beim Tross bleiben, und der ist sowieso langsam.«
Wie langsam so ein Heerzug mit begleitenden Versorgungswagen, schwer beladenen Packpferden und Maultieren wirklich vorankam, sollten sie bald erfahren. Von St. Gallen aus ging die Reise weiter in Richtung Rheintal. Judith fieberte den Bergen entgegen, die mit ihren schroffen Gipfeln unter weißen Hauben scheinbar unüberwindlich vor ihnen lagen. Sie fragte sich, wie sie in ihrem rumpelnden Gefährt über diese himmelhohen Felswände hinwegkommen sollten. Stunde um Stunde verging, in denen sie mit Beatrix auf Fellen und Decken unbarmherzig hin und her geschüttelt wurde, und doch schienen die grauweißen Kolosse nicht näher zu kommen.
Einige Tage ging ihre Reise durch das breite Rheintal. Fast unmerklich stieg der Weg an, Fluss und Tal wurden allmählich von den Bergen eingeschlossen. Plötzlich hockten die felsigen Riesen nicht nur vor dem Heereszug, sondern auch neben ihm und selbst dahinter. Am sechsten Tag gabelte sich das Tal. Der Tross wandte sich nach Süden und folgte dem Rhein weiter flussaufwärts. Sie übernachteten in einer großen Siedlung namens Curia. Von hier aus führten Passstraßen in verschiedene Richtungen hinauf in die Berge. Etliche Herbergen bewirteten die vielen Händler auf der Durchreise. Vor dem Ort gab es genug Platz für die Zelte der Ritter.
Abends in der Herberge hörten sie die unterschiedlichsten Sprachen. Die einheimischen Wirtsleute sprachen Rätisch, einige Kaufleute aus dem Süden Italienisch, ab und zu klangen zu Beatrix’ Freude auch französische Brocken dazwischen. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die junge Frau mit dem großen Ritter an ihrer Seite die deutsche Königin war. Judith bemerkte, dass die Italiener die burgundischen Soldaten der Leibwache mit gehässigen Blicken musterten, und es waren ganz sicher keine freundlichen Gespräche, die sie führten, solange sie die Köpfe über ihrem Tisch zusammensteckten.
Konrad ließ die Männer während des Essens nicht aus den Augen. »Mailänder Kaufleute«, mutmaßte er. »Sie sind verbittert wegen der Reichsacht, die über ihrer Stadt hängt.«
»Warum ergeben sie sich nicht einfach?«, fragte Beatrix hochmütig und warf einen provozierenden Blick hinüber zu den Mailändern. Einer von ihnen, ein junger dunkelhaariger Mann mit feinen Gesichtszügen, erwiderte ihn frech und respektlos.
Konrads Hand fuhr an sein Schwert. »Bastard!«, zischte er.
Der Italiener grinste unverschämt und sagte halblaut: »Figlio de puttana!«, woraufhin die anderen Kaufleute besorgt auf ihren Tischgenossen einredeten und mit dem protestierenden jungen Mann eilig die Schenke verließen.
Am nächsten Morgen wandte der Heerzug sich zunächst in Richtung Westen. Judith sah beruhigt, dass es weiter entlang des breiten Flusstals ging, während die Kaufmannszüge zum Teil die schmalen und steilen Wege in die Berge nahmen. Sie ahnte nicht, dass es für sie nur ein Aufschub sein sollte. Inzwischen hatte sie den Reisewagen längst satt.
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