Das Geheimnis der Äbtissin
Offizieren und erteilte Anweisungen, wo die Zelte aufzustellen seien, wo die Abortgruben ausgehoben werden sollten, und wies den Stallknechten Weiden für die Pferde an.
»Sagt, Hoheit, wie alt mag der Herzog sein?«, fragte sie Beatrix, die am Wagen stand und einiges Gepäck heraustragen ließ.
Ein prüfender Blick traf sie, und sie fühlte sich irgendwie ertappt. »Er ist älter als ich, warte … Er dürfte etwa fünfundzwanzig Jahre sein. Warum fragst du?« Beatrix lächelte neugierig.
»Ich bewundere, wie selbstbewusst er mit seinen Untergebenen umgeht.«
»Er musste sehr früh das Herzogtum Burgund übernehmen, gleich nachdem mein Vater gestorben war.«
Die Königin hatte schon vor vielen Jahren beide Eltern verloren, das wusste Judith, und sie nickte.
Zum ersten Mal übernachteten sie nicht in einer Herberge. Mit Fellen und Kissen aus dem Wagen ließen sich die Frauen ein Bett zwischen dem frischen Heu richten. Konrad und die beiden Diener wickelten sich in ihre Umhänge und legten sich gleich neben dem Eingang nieder. Herzog Berthold schlief bei seinen Rittern.
Am nächsten Morgen wölbte sich ein Himmel über den Bergen, der die Farbe des blauen Enzians hatte. Der gleißende Schnee auf den Gipfeln trieb Judith die Tränen in die Augen, als sie aus dem Speicher trat. Auf der Wiese hinter dem Heuspeicher bereiteten sich die Soldaten ihr einfaches Frühstück auf etlichen Kochfeuern. Etwa die Hälfte des Heerzugs hatte hier oben Platz gefunden, der andere Teil lagerte auf einem steinigen Plateau, das sie am Abend zuvor passiert hatten. Gegenüber der Scheune weideten die Pferde und Maultiere des Heeres friedlich neben Kühen an einem steilen Hang. Ein Hirte stand auf einen langen Stab gestützt am Rande der Weide und beobachtete neugierig das Lager. Beatrix schickte einen Diener, ihn nach frischer Milch zu fragen.
Judith beschloss, im Wald hinter der Wiese nach Edelweiß zu suchen. Gelben und blauen Enzian hatte sie längst gefunden, doch das samtweiche weiße Blümchen, das die Einheimischen Katzenpfötchen nannten, war ihr noch nicht begegnet. Auf dem schmalen Trampelpfad, der am Wiesenrand steil hinaufführte, lagen dunkle Kotkügelchen. Welches Tier mochte sie verloren haben?
Etwas weiter oben stieß sie auf die kugelförmigen lila Blüten des Schnittlauchs. Sie pflückte ein paar junge Halme und zerkaute sie. Der würzige Geschmack besänftigte den ersten Hunger. Schon nach kurzer Zeit bereute sie, ihren Umhang mitgenommen zu haben. Der baumlose Hang lag in der Morgensonne, die erstaunlich viel Kraft hatte. Er endete an einem Plateau, das mit sattgrünem Gras bewachsen war, zwischen dem immer wieder kleine und große Felsbrocken leuchteten. Dort, wo einige krumme Fichten sich an den felsigen Berg schmiegten, saß ein halbwüchsiger Junge auf einem einbeinigen Hocker und kaute auf einem Kanten Brot. Erst jetzt sah sie die Ziegen, die mit ihrem hell gescheckten Fell inmitten der Steine nicht weiter auffielen. Neugierig hoben die Tiere die Köpfe, und auch der Junge blickte auf.
»Gott sei mit dir, Hirte. Sag, gibt es hier Edelweiß?«, fragte sie.
Der Junge starrte sie sprachlos an.
»Katzenpfötchen, verstehst du?«
Er schluckte den Bissen hinunter und antwortete. Er redete sehr schnell in einer Sprache, die sie nicht verstand. Natürlich hatte er sie genauso wenig verstanden. Sie schalt sich eine dumme Gans, drehte sich um und lief zum Rand des Plateaus. Auf der Wiese unten am Heuspeicher lagen die Männer. Von hier aus wirkten sie wie Beringars Spielzeugsoldaten. Knechte holten Pferde von der Weide, etwas weiter bergab bemühten sich andere um das zerbrochene Rad an dem Unglückswagen. Langsam stieg sie den Hang wieder hinab und pflückte dabei Schnittlauch. Neben einer dichten Gruppe verkrüppelter Birken setzte sie sich ins Gras und betrachtete das gegenüberliegende Bergmassiv. Hier oben schienen die Berge nicht mehr erdrückend und beängstigend, aber noch immer unnahbar und lebensfeindlich. Die Morgensonne warf lange Schatten zwischen die schmerzhaft blendenden Gipfel und ließ die engen Täler umso dunkler erscheinen. Der Schnee schimmerte in tausend verschiedenen Blau- und Weißtönen. Schuf der Herrgott diese steilen Aufstiege, um die Erschöpften dann mit solchen Bildern zu belohnen?
Unter den überhängenden Ästen der Birken erleichterte sie endlich ihre Blase. Sie vermied die widerlichen Abortgruben, die jeden Abend bei den Zelten ausgehoben wurden und wo sich immer auch
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