Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
Mondino immer leichte Übelkeit bescherte, ihm heute aber ganz besonders den qualvollen Zustand seines Vaters in Erinnerung brachte. Dieser hatte immer wieder heftige Hustenanfälle, bei denen er solche Unmengen von Schleim ausspuckte, dass die Tücher neben seinem Bett sie gar nicht aufsaugen konnten.
Als er das Eisentor vor der Kapelle erreichte, in der das Kreuz der heiligen Apostel aufbewahrt wurde, blieb Mondino stehen. Dieses Gotteshaus war eines von vieren, die der heilige Ambrosius vor fast tausend Jahren zum Schutz der Stadt hatte errichten lassen. Aus einer plötzlichen Eingebung betrat der Arzt die Kapelle. In diesem Moment sah er ungefähr ein Dutzend Schritte entfernt eine schattenhafte Gestalt, die ihn an jemanden erinnerte, hinter eine Säule huschen. Mondino maß dem wenig Bedeutung bei und begann zu beten. Er wandte sich an die heiligen Apostel Christi, denen das Kreuz geweiht war, bat sie, seinem Vater in der Stunde seines Todes beizustehen und ihm zu vergeben, dass er nicht an seinem Sterbelager weilte. Dann bat er den heiligen Ambrosius, ihm die nötige Kraft zu verleihen, um diesen Kampf siegreich zu bestehen und ihn vor seinen Feinden zu beschützen.
Mondino kannte und liebte die Kraft des inbrünstigen Gebetes, aber er hätte sich eine Kirche gewünscht, die den Lehren Christi näher stand und nicht so sehr von der weltlichen Macht besessen war. Auch dies war vermutlich eine Illusion, wie seine Idee, das Geheimnis des Blutkreislaufs zu entdecken. Vielleicht war ein Wissenschaftler auch immer ein Träumer: Man musste seine Träume nur in die richtige Richtung lenken. Doch er hatte sich von einem falschen Traum verführen lassen, und nun
waren ihm die Dinge entglitten und drohten ihn zu überrollen. Er musste den Mörder der beiden Templer finden - nur so würde er zumindest teilweise das Unheil abwenden können, das sich über ihm zusammenbraute.
Dafür blieb ihm jedoch nur noch sehr wenig Zeit.
Um die Sorgen, die ihn nicht losließen, zu mildern, stimmte er leise das Lied Te lucis ante terminum an, das üblicherweise zur Komplet nach Sonnenuntergang gesungen wurde. Aber es war das einzige Lied aus der Feder des heiligen Ambrosius, das er kannte, außerdem fand er, dass es sehr gut zu seiner gegenwärtigen Situation passte. Über ihm drohte eine dunkle Nacht voller Alpträume hereinzubrechen, selbst wenn es erst früh am Morgen war.
Als Mondino aus der Kapelle in den Sonnenschein trat, fühlte er sich sofort besser. Helligkeit überflutete die Straße, und von der Düsternis, die eben noch so schwer auf seiner Seele gelastet hatte, war nichts mehr zu spüren. Mondino stützte sich auf einen der steinernen Greife an den Seiten des Tores, atmete tief durch und dankte dem heiligen Ambrosius und den Aposteln. In diesem Moment fiel ihm ein Mann auf, der mit dem Rücken zu ihm vor einem Obsthändler stand und den Preis für einen Korb Kirschen auszuhandeln schien. Er war von stämmiger, kräftiger Statur und erinnerte ihn an den Mann, den er am Vorabend allein in der Taverne hatte trinken sehen. Plötzlich erinnerte er sich, dass er hinter sich eine Gestalt bemerkt hatte, als er das Wirtshaus verlassen hatte, und ein Mann schnell hinter einer Säule verschwunden war, als er die Kapelle mit dem steinernen Kreuz betreten hatte. Immer derselbe Mann!
Er zwang sich, gleichmütig zu wirken, und lief durch den Torbogen der Porta Govese weiter. Doch er war bestürzt. Dieser Mann verfolgte ihn. Sicher auf Anordnung des Inquisitors. Vielleicht hatte er ihn mit Gerardo sprechen sehen, und das,
nachdem Mondino Uberto da Rimini erklärt hatte, er kenne ihn nicht. Jetzt durfte er ihn nicht auch noch dabei beobachten, wie er mit einer Kräuterhexe redete.
Was sollte er tun?
Mondino sah sich im Gehen um und suchte nach einer Möglichkeit, seinen Verfolger abzuschütteln. Sobald er erst einmal den Kanal delle Moline kurz hinter der Porta Govese erreicht hatte, musste er nach links zum Cavadizzo abbiegen, doch nun war es sinnlos geworden, ein Boot zu nehmen. So hätte man ihn allzu leicht verfolgen können. Instinktiv wandte er sich nach rechts und folgte dem Kanal in die entgegengesetzte Richtung auf die Mühlen zu, von denen er seinen Namen hatte.
Je näher er dem Campo del Mercato kam, desto mehr Volk drängte sich auf den Straßen rund um den Platz: Männer, Frauen, Kinder und Tiere verstopften die Durchgänge. Es war Sonnabend, und der wöchentliche Viehmarkt war bereits in vollem Gange. Viele Bauern und
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