Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
Hirten hatten Bologna bereits am Vorabend erreicht und neben ihren Tieren geschlafen, um sie vor Dieben zu beschützen. Nun, da sie wach waren, sahen sie die Notwendigkeit nicht ein, erst abzuwarten, dass der Markt offiziell eröffnet wurde, und begannen mit kleineren An- und Verkäufen. Nur für die größeren Abschlüsse benötigte man Notare und Bankiers - bei einem oder zwei Stück Vieh konnte man das Ganze einfach mit einem Handschlag besiegeln.
Mondino sah einen Rechtsgelehrten vorbeikommen, den er kannte, ihm folgte eine ganze Schar Assistenten in Seminaristentracht. Er blieb stehen, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln und sich bei dieser Gelegenheit noch einmal nach seinem Verfolger umzusehen. Dieses Mal konnte er ihn nicht entdecken, aber er wusste, dass er sich irgendwo verbarg. Ohne Eile verabschiedete Mondino sich von dem Rechtsgelehrten
und mischte sich unter das Volk. Mittlerweile wich seine Angst einer aufsteigenden Wut.
Flucht war nicht die einzige Möglichkeit, um seine Spuren zu verwischen. Er hatte zwar nicht die Zeit gehabt, sich seinen Verfolger genauer anzusehen, aber er war sicher, dass dieser kleiner, wenn auch kräftiger als er selbst war. Vielleicht konnte er ihn überwältigen.
Mondino begann, sich nach einem geeigneten Platz für sein Vorhaben umzusehen. Er verließ die überfüllte Straße und näherte sich immer weiter dem beinahe menschenleeren Kanaldamm, wo die Holzbohlen, die die Getreidemühlen antrieben, laut klapperten und quietschten. Bei der fünften Mühle, die Fantulino genannt wurde, entdeckte er hinter einer Ziegelsteinmauer eine breite Nische. Er trat einen Schritt zur Seite und verbarg sich dort im Schatten. Nun hörte er nichts mehr außer dem Rauschen des Rades, das sich in der Mitte des Kanals auf einem Balken drehte, der in zwei gleichen Gehäusen auf beiden Uferseiten verankert war. Mit klopfendem Herzen wartete Mondino eine Zeitlang, die ihm endlos erschien, aber in Wirklichkeit wohl nicht einmal für das Aufsagen eines Vaterunsers gereicht hätte. Dann hörte er schlurfende Schritte, und kurz darauf tauchte sein Verfolger auf. Der Arzt ließ ihm keine Zeit, irgendetwas zu unternehmen, sondern streckte blitzschnell einen Fuß vor und brachte ihn ins Straucheln. Während der Mann mit den Händen ruderte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, packte er ihn an der Schulter und zog ihn in den schützenden Schatten der Mauer. Ehe er ihn befragen konnte, musste er ihn irgendwie fesseln, aber der andere wehrte sich, und Mondino stellte fest, dass er ihn unterschätzt hatte. Sein Gegner war klein, aber äußerst kräftig.
Zum Glück schien auch der andere kein Interesse zu haben, die Aufmerksamkeit des Volkes auf sich zu lenken. Er schrie nicht und rief auch nicht um Hilfe. Er keuchte nur wie ein
Stier, stützte sich auf einem Bein ab, befreite sich aus Mondinos Griff und ging dann mit dem Kopf voran auf ihn los. Der Arzt wurde an der Brust getroffen und schlug mit dem Rücken gegen die Ziegelmauer. Er konnte sich allerdings befreien, ehe der andere ihn an der Taille zu fassen bekam, und versetzte ihm einen Faustschlag in den Nacken. Beide kämpften schweigend und schlugen nach Leibeskräften zu, denn ihnen war klar, dass sie sich beeilen mussten, um den Kampf für sich zu entscheiden, ehe jemand sie bemerkte. Plötzlich spürte Mondino, wie der andere ihm die Kehle zudrückte und ihm die Luft wegblieb. In der Hitze des Gefechts überlegte er nicht lange und bohrte einen Finger in ein Auge des Mannes, der daraufhin leise aufschrie, ihn losließ und sich die Hände vors Gesicht schlug. Mondino nahm Anlauf und schob den Mann wie einen Sack an den Rand des Kanals.
Dieser versuchte, sich mit den Füßen abzustützen, aber er konnte ihm nicht mehr genügend Widerstand entgegensetzen. Er griff nach Mondinos Haaren, aber in seiner Hand blieb nur dessen Barett zurück. Als er gegen die niedrige Brüstung stolperte, knickten seine Beine weg, und einen Augenblick später fiel er mit einem dumpfen Klatschen ins Wasser. Gleich darauf gelang es ihm, wieder aufzustehen, er war triefend nass, schäumte vor Wut und sah wild entschlossen zur Uferböschung hinauf.
Zwei Männer am anderen Ufer stürzten sich schreiend ins Wasser - nicht so sehr, um dem Mann zu helfen, sondern um Mondino zu packen, den sie offensichtlich für einen Räuber hielten. Zwei weitere Männer liefen zu der nahen Brücke, um ihm den Weg abzuschneiden. Wenn sie ihn erwischten, würden sie ihn möglicherweise
Weitere Kostenlose Bücher