Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
antwortete Rainerio. »Dich fasziniert alles, was du dir nicht erklären kannst, und du findest keine Ruhe, bis du eine befriedigende Antwort gefunden hast. Nicht einmal der göttliche Aristoteles entgeht deinen Nachforschungen. Und nun hast du anscheinend wieder etwas gefunden, das deine Fantasie beschäftigt. Deshalb sieht man dich kaum noch zu Hause.«
Mondino und sein Vater hatten nie viel miteinander geredet. Beide hatten den für Choleriker typischen schwierigen Charakter, der von den Säften der gelben Galle beherrscht wird. Zwischen ihnen hatte es selten Umarmungen und oft Streit gegeben. Mondino war davon überzeugt, dass sein Vater dem, was er tat, keine Beachtung schenkte. Und nun zeigte ihm Rainerio, dass er ihn viel genauer kannte, als er erwartet hätte.
Es stimmte, er liebte es, Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Aus diesem Grund war er auch Arzt geworden. Noch mehr als der Gedanke, die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern, hatte ihn der Drang, die Funktionsweise des menschlichen Körpers zu erschließen, dazu getrieben, diesen Beruf zu ergreifen. Und aus dem gleichen Grund hatte er sich für die Anatomie begeistert. Aber es war besser, wenn sein Vater nicht einmal ahnte, welcher Art das Geheimnis war, das ihn nun beschäftigte.
»Richtig, Vater«, gab er zu und senkte den Blick. »Ich studiere eine neue Technik, um …«
»Lass nur«, unterbrach ihn sein Vater knapp. »Wenn du
nicht darüber reden willst, schon gut. Du bist nicht verpflichtet mich anzulügen.«
Mondino merkte, wie er errötete. Er überlegte kurz, ob er alles abstreiten sollte, aber dann sagte er sich, dass es schändlich wäre, die wenige Zeit, die ihm noch mit seinem Vater blieb, damit zu verbringen, ihm Lügen zu erzählen. »Verzeiht mir«, sagte er leise. Dann fügte er ein wenig lauter hinzu: »Die Angelegenheit ist gefährlich. Je weniger Ihr wisst, desto besser. Ich bitte Euch auch, Liuzzo gegenüber nichts zu erwähnen.«
»Betrifft die Gefahr die Inquisition?«, fragte Rainerio.
»Ja«, erwiderte Mondino und vermied es zu erklären, dass das Verschwinden der Leiche und die Unterstützung eines Brandstifters auch ein weltliches Gericht angingen. In einer einzigen Nacht hatte er eine ansehnliche Palette an Verbrechen angehäuft. »Aber es besteht die Möglichkeit, dadurch etwas wirklich Großartiges zum Wohle der ganzen Menschheit zu erreichen.«
Sein Vater wandte sich wieder dem Apfelbaum zu. Die jungen grünen Früchte schauten zwischen den Zweigen hervor und ahnten nichts davon, dass sie eines schönen Tages auf den Boden fallen und im Schlamm verrotten würden.
»Ich bitte dich, sei sehr vorsichtig«, sagte Rainerio in einem prophetischen Ton, der seinem Sohn einen langen Schauer den Rücken hinunterjagte. »Mir schwant Böses.«
Mit schwerem Herzen verließ Mondino das Zimmer. Und das nicht nur wegen des Schicksals seines Vaters.
Als er unter dem großen Schild am Turm der Garisendi vorbeikam, auf dem das Verbot, in der Stadt Waffen zu tragen, verkündet wurde, fiel Gerardo ein, dass er selbst unbewaffnet war. Und er konnte sich nicht entscheiden, ob dies für sein Vorhaben von Vor- oder Nachteil war.
Sein Waffenlehrer, den sein Vater dreimal die Woche auf
ihre kleine Burg hatte kommen lassen, nachdem Gerardo seinen Entschluss verkündet hatte, dem Orden beitreten zu wollen, hatte ihn gelehrt, dass das Schwert für einen Templer wie das heilige Kreuz sei. Eine Waffe gegen das Böse, aber eben eine geweihte Waffe, die man mit Verstand einsetzen musste. »Sie wird nur im Kampf benutzt«, hatte der erfahrene bärtige Mönch gesagt. »Wir sind keine gemeinen Söldner. Wir sind Soldaten Christi und dürfen nur gegen die Feinde des Glaubens kämpfen.« Und er wiederholte oft, die einzige Möglichkeit sicherzugehen, dass man niemanden aus nichtigen Gründen in einer Rauferei auf der Straße oder im Wirtshaus tötete, wäre, keine Waffen zu tragen außer im Krieg. »Wenn ich kein Schwert bei mir trage, kann ich sicher sein, dass ich es nicht benutze«, pflegte er zu sagen.
Während Gerardo unter den Bogengängen entlangging und abwesend Handwerker, Stoffverkäufer und Käsehändler dabei beobachtete, wie sie ihre Waren verstauten und die Stände abbauten, packte ihn die Wut wegen dieses Lebens, von dem er geträumt hatte und das ihm verwehrt worden war. Er hatte das Kettenhemd und das weiße Gewand mit dem Kreuz auf der Brust nur ein einziges Mal getragen, und zwar an dem Tag, als man ihn zum Mönch geweiht
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