Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
hatte. Er erinnerte sich noch genau, wie schwer Helm, Schild und Schwert gewesen waren, erinnerte sich an seinen Stolz, ein mächtiges Werkzeug in den Händen des Herrn zu sein, Mitglied eines der wichtigsten und legendärsten Orden in der Geschichte der Kirche. Er hatte erst vor kurzem das Haus verlassen, in dem er geboren und aufgewachsen war, und sich in die Komturei der Templer nach Ravenna begeben, wo er nun darauf wartete, dass man ihm seinen ersten Einsatzort nannte. Just da fuhr der von Papst Clemens V. höchstpersönlich unterzeichnete Haftbefehl gegen alle Mitglieder des Ordens wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf sie nieder.
Viele der Soldaten Christi hatten zunächst an einen Irrtum geglaubt und gelassen auf die Inquisitoren gewartet, überzeugt davon, dass sie nichts zu befürchten hätten. Gerardo war dem Rat seines Waffenlehrers gefolgt, der eilig nach Zypern aufgebrochen war. »Rückzug ist keine Flucht«, hatte er gesagt. »Verbirg dich, beobachte von einem sicheren Ort aus, was geschieht, und dann, wenn es angebracht ist, gib dich zu erkennen.«
Gerardo hatte es nie bereut, dass er diesem Rat gefolgt war. Er war nach Bologna geflohen, hatte einen anderen Namen angenommen, mehr zu ihrem als zu seinem eigenen Besten den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen und ihnen in drei Jahren nur einen einzigen Brief geschickt, um sie zu unterrichten, dass es ihm gut gehe und er zu ihnen zurückkehren werde, sobald sich der Sturm gelegt habe. Er hoffte tatsächlich, dass mit dem Ende des Prozesses, mit dem in wenigen Wochen gerechnet wurde, seine Lage eine deutliche Wendung nehmen würde.
Trotzdem hätte er sich mit einem Dolch am Gürtel sicherer gefühlt. Er hatte keineswegs die Absicht, die alte Frau zu töten, obwohl sie dieses Schicksal tausendfach verdient hätte für das, was sie Masino und sicherlich auch anderen Kindern angetan hatte. Aber mit einer Waffe hätte er sie bestimmt schneller dazu gebracht, seinen Forderungen zu entsprechen, und er hätte sich verteidigen können, falls die beiden Kerle, die er das letzte Mal gesehen hatte, hinzukommen würden.
Gerardo verfolgte keinen bestimmten Plan. Er wollte einfach dort anklopfen und baute darauf, dass man ihm öffnen würde, wenn er seine Stimme verstellte. Sobald er der Frau gegenüberstand, würde er sie in den Raum zurückdrängen und dafür sorgen, dass sie keinen Schaden anrichtete, während er den Jungen befreite und ihn wegbrachte. Am vergangenen Abend war er todmüde und nicht in der Lage gewesen, einen
klaren Gedanken zu fassen. Er war nicht einmal zu seiner Verabredung mit Mondino gegangen, weil er, kaum dass er sein Zimmer betreten hatte, auf seinem Strohsack zusammengesunken war und die ganze Nacht, den Vormittag und einen Teil des Nachmittags durchgeschlafen hatte. Er war erst aufgewacht, als die Sonne bereits im Westen unterging. Jetzt fühlte er sich erfrischt und ausgeruht und zweifelte nicht daran, dass er seinen Plan erfolgreich würde umsetzen können.
Wie schon am vorigen Abend vermied er es, über die Piazza del Mercato zu gehen. Er hielt sich dicht an den Mauern, bog zwei Straßen vor dem Platz ab, betrat die Gasse von der entgegengesetzten Seite und stand schließlich vor Filomenas Haustür.
Der Moment war gekommen. Er klopfte, wartete und machte sich bereit, seine Stimme zu verstellen.
Doch niemand kam, um zu öffnen. Er klopfte noch einmal, kräftiger, und rief die Frau beim Namen.
Nichts.
Gerardo hangelte sich an der Mauer bis zum Fenster hoch, das nur zwei Armlängen vom Boden entfernt war, und versuchte, durch einen Schlitz der geschlossenen Fensterläden hineinzusehen, aber dort war alles finster. Trotz der Dunkelheit brannte im Haus kein Licht. Es konnte sehr gut sein, dass Filomena es wegen einer Erledigung verlassen hatte und der Junge sich jetzt allein dort aufhielt, aber Gerardo hatte das unbestimmte Gefühl, dass dies nicht der Fall war. Schweren Herzens hielt er sich mit einer Hand fest und brach mit der anderen den Fensterladen auf, rief Masino zu, er sollte sich melden und etwas auf den Boden werfen, wenn er dort im Zimmer eingesperrt wäre.
Nichts geschah. Die Küche hinter dem Fensterladen schien verlassen zu sein. Das Herdfeuer war erloschen, Bretter und Borde waren leergeräumt, kein Topf, keine Kelle und kein einziges
Messer waren mehr zu sehen. Unter dem Tisch glaubte er die Scherben des Kruges auszumachen, den er am Vorabend zerbrochen hatte.
Diese Hexe hatte vielleicht befürchtet, dass er ihr
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