Das Geheimnis der Apothekerin
neben ihr, eine Hand leicht auf ihre Schulter gelegt, um sie so zu platzieren, dass sie den besten Blick hatte. Man sah ihm an, wie sehr er seine Rolle als Forscher – und die Möglichkeit, den Damen so nahe zu kommen – genoss.
»Da ist sie!«, rief Mary. »Ich glaube jedenfalls, dass es die Kathedrale von Salisbury ist, auch wenn ich sie noch nie gesehen habe.«
»Ich schon. Erlauben Sie.« Marlow beugte sich hinunter und spähte durch die Linse. »Tatsächlich. Die Spitze der Kathedrale von Salisbury. Sie ist über dreißig Kilometer entfernt. Das hätte ich nicht gedacht.«
Als Mr Shuttleworth und Mary so dicht beieinander standen, fiel Lilly auf, wie sein Blick auf Marys Profil ruhte. Er runzelte leicht die Stirn und sah genauer hin. »Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen.«
»Was?«, fragte Mary verlegen.
»Diese kleine Narbe auf Ihrer Wange. Eine Brandwunde, nicht wahr?«
Lilly sah, wie ihre Freundin kurz nickte und dann verwirrt den Blick abwandte. Sie war für ihre Freundin verlegen. Sie wusste zwar nicht, woher die Narbe stammte, konnte es aber leicht erraten.
»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht kränken«, sagte er. »Es ist ja auch kaum sichtbar. Hier schlägt wohl der Wundarzt durch, nehme ich an.«
»Ist schon gut. Es ist lange her.« Mary trat zurück. »Wer will als Nächster?«
Einer nach dem anderen schauten sie durch das Teleskop – Lady Marlow, Miss Robbins, Charlie, Francis. Lilly zögerte es hinaus; sie beobachtete das Staunen und die Freude auf den Gesichtern. Charlie hatte höchstwahrscheinlich keine Ahnung, was er da eigentlich sah, doch er schien ebenso ergriffen wie die anderen.
Dr. Graves zögerte kurz und trat dann ans Teleskop. »Miss Haswell? Möchten Sie nicht auch durchschauen?«
»Sie zuerst. Ich warte gern. Ich genieße es, durch die Augen der anderen zu sehen.«
Schließlich war Lilly an der Reihe. Sie trat dicht an das Teleskop und beugte sich zu der Linse hinunter, war allerdings klein genug, um sich nicht allzu sehr bücken zu müssen. »Ich sehe … nichts …«
»Hier.« Mr Shuttleworth trat dicht neben sie, sodass sie fast Wange an Wange standen, während sie den Kopf wegdrehte, sodass er durch das Glas blicken konnte. »Es muss verstellt gewesen sein. Versuchen Sie es jetzt noch einmal.« Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter, so wie sie es bei Mary gesehen hatte, aber es machte ihr nicht das Geringste aus. Mr Shuttleworth war ihr einfach nur sympathisch. Und da war sie. Englands höchste Kirchturmspitze. Konnte es wirklich sein, dass sie dreißig Kilometer entfernt war? Sie erinnerte sich daran, wie sie vor ein paar Jahren auf dem Grey's Hill gestanden und sich gewünscht hatte, hier zu sein, diesen Anblick haben zu dürfen. Und wie sie es sich gewünscht hatte, selbst hinzufahren, überallhin zu fahren. Jetzt hatte sich dieser Wunsch erfüllt. Sie war sehr viel weiter als dreißig Kilometer gereist. Sie hatte in dem wunderbaren London gelebt. Wie oft hatte sie sich die Freuden ausgemalt, die sie da draußen erleben würde. Hatte sie sie tatsächlich gefunden?
Sie sah auf und merkte, dass sie mit Mr Shuttleworth allein war. Reuig sagte sie: »Ich wollte es nicht mit Beschlag belegen. Hier. Jetzt sind Sie dran.«
»Wenn Sie dableiben und mir Gesellschaft leisten.«
»Wie Sie möchten.«
Die anderen waren wieder zu ihren Sitzgelegenheiten gewandert. Cecil Briggs und der Diener hatten die Picknickkörbe weggebracht; nur der Korb mit den Getränken und Marys Korb mit dem Gebäck waren noch da. Noch immer Schulter an Schulter vor dem Teleskop stehend, wandten Lilly und Mr Shuttleworth gleichzeitig die Köpfe und sahen zu der Gruppe hinüber.
Mary gab Charlie gerade ein süßes Brötchen und Mr Marlow öffnete eine weitere Flasche Claret. Dr. Graves und Francis saßen beieinander, beide hatten die Arme auf die angezogenen Knie gestützt. Obwohl sie aneinander vorbei nach vorn in die weite Landschaft blickten, waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft. Die Nachmittagssonne warf ein goldenes Licht auf ihre Gesichter und schien immer noch so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen mussten, während sie sprachen. Miss Robbins und Lady Marlow saßen auf dem anderen Ende der Decke nebeneinander und unterhielten sich und lachten wie alte Freundinnen. Damit hätte niemand gerechnet. Sie waren schon eine seltsame Picknickgesellschaft.
Mr Shuttleworth sagte ruhig: »Anscheinend sind wir Außenseiter.«
Sie drehte sich um und sah ihn an in dem
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