Das Geheimnis der Apothekerin
näher. »Darf ich Ihnen heraufhelfen, Lady Marlow?«
»Danke. Wenigstens ein Gentleman in unserer Runde.«
Graves zog sie vorsichtig hoch. Der Wind, der hier oben noch stärker blies, drohte ihren Hut fortzuwehen. Unter dem Hut quollen rote Locken hervor, die sich malerisch um ihre Wangen legten. Sie war wirklich eine bildschöne Frau. Kein Wunder, dass Marlow aus dem Gleichgewicht war. Er spürte den Blick des anderen Mannes auf sich ruhen und drehte sich um.
Marlow blickte von Lady Marlow zu ihm. »Seien Sie vorsichtig, Graves. Diese Frau kann Sie schneller vom Leben in den Tod befördern, als Sie von Adam's Grave fallen.«
»Achten Sie nicht auf ihn, Doktor«, sagte Lady Marlow leichthin. »Er gefällt sich in der Rolle des Liebenden, dem man das Herz gebrochen hat. Aber wenn Sie ihn untersuchen würden, würden Sie feststellen, dass er gar kein Herz hat, das brechen könnte.«
»Wenn ich eines hätte«, sagte Roderick Marlow mit harten Augen, »dann kannst du sicher sein, dass nichts, was du sagst oder tust, es auch nur berührt.«
Sie warf ihm einen sengenden Blick zu, der ihren freundlichen Ton Lügen strafte. »Ach wirklich? Das werde ich mir merken, Roderick. Und ich möchte dir raten, dass du es dir ebenfalls merkst.«
36
GEGEN DIE FALLSUCHT
Man nehme Fingerhut und Tüpfelfarn, koche sie in Bier oder Ale und trinke die Abkochung. Ein Kranker, der zwei oder drei Mal im Monat Anfälle von Fallsucht hatte, hatte danach sechzehn Monate lang keinen Anfall.
Rezept aus dem 17. Jahrhundert, Mystery and Art of the Apothecary
Eine Woche später saß Lilly neben Mary und Mrs Mimpurse in der Kirche. Ihr Vater hatte sich, wie es zurzeit noch oft vorkam, nicht wohl genug gefühlt, um sie zu begleiten, und Charlie, zweifellos auf einer seiner Erkundungen unterwegs, war nirgends aufzufinden gewesen. Aber selbst wenn die männlichen Mitglieder ihrer Familie zu ihrer Begleitung bereitgestanden hätten, wären die Mimpurse-Damen an diesem besonderen Tag, dem siebten Todestag von Harold Mimpurse, froh über ihre Gesellschaft gewesen.
Ihr fiel auf, dass Mr Shuttleworth, der auf der anderen Seite saß, häufig in ihre Richtung blickte. In Marys Richtung , korrigierte sie sich und lächelte heimlich.
Als Mr Baisley zum Ende seiner Predigt kam, bemerkte Lilly etwas Ungewöhnliches. Marys Haltung war unnatürlich steif. Selbst als alle um sie herum die Seiten in ihren Gesangbüchern umblätterten, blieb sie ganz still sitzen und starrte unbewegt geradeaus; die hellblauen Augen blinzelten nicht ein einziges Mal.
Lilly streckte die Hand aus und umfasste sanft ihr Handgelenk. Kein Blinzeln, keine Reaktion. Wieder drückte sie zu, diesmal fester. Nichts. Die Leute rings um sie blätterten wieder, suchten das Schlusslied heraus und fingen auf das Zeichen des Pfarrers an zu singen. Mary starrte noch immer bewegungslos vor sich hin. Lilly schauderte. Diese Augen, die keinerlei Ausdruck hatten, waren einfach zu unheimlich. Als hätte jemand das Licht hinter ihnen ausgeblasen. Sie griff über Mary hinweg und tippte Mrs Mimpurse an, die völlig ins Singen vertieft war. Sie blickte zu ihr her und wurde sofort aufmerksam. Unauffällig legte sie ihr Gesangbuch beiseite und nahm ihrer Tochter vorsichtig das ihre aus den steifen Fingern. Dann sah sie Lilly bittend an und diese glaubte zu verstehen.
Als das Lied zu Ende gesungen und der Segen gesprochen war, erhoben sich die Gemeindeglieder und folgten dem Pfarrer den Mittelgang hinunter. Lilly sah, dass Francis die Kirche zusammen mit der Familie Robbins verließ und Dr. Graves seinen Arm galant der alten Mrs Kilgrove bot. Nur Mr Shuttleworth machte keine Anstalten hinauszugehen; wahrscheinlich wollte er bleiben, um sie zu begrüßen. Doch Lilly wusste genau, wie unangenehm es Mary wäre, wenn er sie in diesem Zustand sehen würde.
Plötzlich hörte sie einen Hauch, wie ein langes Ausatmen, und spürte, wie Mary neben ihr zusammensank. Lilly drückte sie mit ihrem ganzen Körper gegen ihre Mutter und Maude legte den Arm um sie und presste ihre Wange an die ihrer Tochter, als führe sie ein geflüstertes Gespräch mit ihr. Lilly stand auf und überquerte den Gang, um Mr Shuttleworth abzulenken.
»Geht es Miss Mary gut?«, fragte er besorgt.
»Ja. Es ist der Jahrestag des Todes ihres Vaters. Ich glaube, sie sind heute beide ein bisschen melancholisch.«
»Das wusste ich nicht. Es tut mir leid. Soll ich …?«
»Ich glaube, wir lassen sie am besten allein.«
»Gut. Ich bin
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