Das Geheimnis der Apothekerin
so gern sagen? Werden Sie meinen Vater jetzt gesund machen?«
Angst stieg in Lilly auf wie Galle. Roderick Marlow musste betrunken sein, vielleicht sogar wahnsinnig. Sie hatte ihn noch nie so gesehen. Sie erkannte in diesem wütenden, verzweifelten Menschen nicht mehr den Mann, den sie vor noch nicht langer Zeit im Stall geküsst hatte.
Marlow blieb vor ihrem Vater stehen und verlagerte sein Gewicht auf ein Bein. »Haswell, der Legende nach haben Sie meinen Großvater einmal von den Toten auferweckt. Sehr vorteilhaft für Sie, denn sonst hätten die Leute wohl kaum so bereitwillig über ihre wankelmütige Frau und ihren Sohn, den Idioten, hinweggesehen. Wie die Horden Ihnen nachgelaufen sind, wie gierig sie waren, Ihren Rat zu hören und die Medizin, die Sie verordneten, zu kaufen. Aber jetzt haben Sie lange genug von Ihrem Ruhm gelebt.«
»Und Dr. Graves«, Marlows Lippen kräuselten sich. »Sie mit Ihrer privilegierten Ausbildung in Oxford, an die Sie uns ständig erinnern. Hier haben Sie Gelegenheit zu zeigen, dass Ihr Wissen dem des weniger gut ausgebildeten Wundarztes und Apothekers überlegen ist.«
Wieder stemmte er die Hände in die Hüften. »Mir persönlich ist es egal, wer von Ihnen Erfolg hat. Aber wenn Sie alle versagen, wenn mein Vater stirbt, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, stirbt Ihr Lebensunterhalt mit ihm.« Noch einmal fiel sein Blick auf Lilly. »Sie hätten gehen sollen, Miss Haswell, solange Sie noch die Chance dazu hatten.«
Die äußere Tür flog hinter Mr Marlow zu. Auch als das Echo verklungen war, rührte sich lange Zeit niemand und keiner sagte ein Wort. Dann gingen sie zu viert leise ins Schlafzimmer von Sir Henry und traten an sein Bett. Wie still der Mann war. Und wie grau im Gesicht.
»Guter Gott«, flüsterte ihr Vater. »Er ist fast tot.«
Dr. Graves beugte sich über den Kranken, um sein Herz abzuhören. Mr Shuttleworth hob seine Augenlider an und tastete seinen Bauch ab. Ihr Vater nahm das schlaffe Handgelenk und fühlte seinen Puls. »Schnell und schwach.«
Zusammen beratschlagten sie, wie sie Sir Henry behandeln könnten, sagten einander, welche Medizin sie ihm verordnet hatten, und überlegten, ob die einzelnen Medikamente sich vielleicht nicht vertragen hatten.
»Ich habe ihm eine niedrige Dosis Digitalis gegen die Wassersucht gegeben«, sagte Dr. Graves. »Aber das konnte nicht diese Wirkung haben.«
»Digitalis?«, fragte Mr Shuttleworth. »Wo eine Infusion aus Wacholder oder Bryonya die gleiche Wirkung gehabt hätte und so viel weniger riskant gewesen wäre?«
»Gentlemen, bitte«, sagte Lilly, »wir wollen uns nicht gegenseitig die Schuld geben. Wir müssen gemeinsam eine Lösung finden.«
»Eine Lösung?« Dr. Graves' Stimme hob sich ungläubig. »Der Mann stirbt. Es gibt keine Lösung.«
Lilly dachte nach, sie durchforstete ihr Gedächtnis. Könnte sie – könnte einer von ihnen – eine Lösung für diese unmögliche Situation finden? Weder der Arzt noch der Wundarzt noch der Apotheker wussten, was sie noch für Sir Henry oder für seinen verzweifelten Sohn tun konnten.
Sie brauchten ein Wunder.
Hinter ihnen sprang die Tür auf. Lilly fuhr herum und sah Francis Baylor auf der Schwelle stehen. Er war völlig außer Atem. Unerklärlicherweise war sie erleichtert, ihn zu sehen. »Francis! Wurdest du auch herbestellt?«
Francis ließ den Blick über den Raum und die darin Anwesenden schweifen. »Nein. Aber Mrs Mimpurse hat mir von dem Testament erzählt. Da ich weder Mr Shuttleworth noch einen von Ihnen finden konnte, machte ich mir Sorgen. Ich dachte, es sei besser nachzusehen, ob ich vielleicht helfen kann.«
»Fällt Ihnen denn etwas ein, das wir ihm geben könnten?«, fragte Mr Shuttleworth.
Francis ging durch das Zimmer und legte dem Baronet die Hand auf die blasse Stirn. Es schien keinen Zweifel zu geben, dass der alte Mann nicht mehr lange leben würde. »Leider nicht. Auch wenn ich Withers in dem Glauben ließ, damit ich zu Ihnen durfte.«
Dr. Graves fragte: »Was hat es mit diesem neuen Testament auf sich?«
Lilly erzählte mit leiser Stimme, was sie von Mr Marlow darüber erfahren hatte. Es war der Hauptgrund, so vermutete sie, für seine wilden Drohungen. Es sei denn … war es möglich, dass er sich wirklich so verzweifelt wünschte, seinen Vater um Verzeihung bitten zu können?
Die äußere Tür öffnete sich abermals laut und Roderick Marlow trat ein. »Was höre ich da von einer Arznei, Baylor?«, wollte er wissen.
Francis
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