Das Geheimnis der Apothekerin
eingetreten, ohne dass einer von ihnen sie gehört hatte. In einem einfachen Tageskleid, das rote Haar in einer schlichten Frisur zurückgenommen, sah sie von einem zum anderen. Schließlich blieb ihr Blick an Dr. Graves hängen.
Dieser räusperte sich. »Mr Marlow hat uns herbestellt, damit wir überlegen, was wir für Sir Henry tun können.«
»Und was machen Sie dann hier draußen?«
Als Dr. Graves zögerte, antwortete Francis: »Beten.« Und er fügte freundlich hinzu: »Leider können wir sonst nichts mehr für Ihren Mann tun, Lady Marlow.«
Einen Augenblick wirkte die Frau wie erstarrt, ihr Mund bildete ein rosa Oval vor Überraschung.
»Mr Marlow ist jetzt bei Sir Henry«, erklärte Francis. »Er nimmt Abschied von ihm.«
Lady Marlow seufzte, als sei sie plötzlich sehr müde. Es war, als fiele ihr Gesicht auseinander; jedenfalls wirkte sie mit einem Mal zehn Jahre älter. »Der arme Mann«, murmelte sie traurig. Lilly fragte sich, welchen von beiden sie wohl meinte.
Dann ging die Tür zum Schlafzimmer auf. Sie drehten sich alle zugleich um. Roderick Marlow stand auf der Schwelle. Über seine Wangen liefen Tränen. Er ignorierte die anderen und sah nur Lilly an.
»Ich habe ihn um Verzeihung gebeten … und er … hat meine Hand gedrückt.« Sein Gesicht verzerrte sich in dem starken Gefühl, das er empfand. »Er hat mich erkannt …«
Tränen des Verständnisses liefen über Lillys Wangen, als sie ihm in die Augen sah.
Die anderen waren ebenso bewegt wie erleichtert, als sie merkten, dass Roderick Marlow wieder bei Sinnen war. In wenigen Minuten hatte er sie alle verabschiedet, sichtlich verlegen über sein rücksichtsloses und irrationales Verhalten. Doch angesichts des Zustands seines Vaters schienen alle bereit, dem künftigen Sir Roderick, Baronet, zu vergeben.
Sir Henry gewann das Bewusstsein nicht zurück.
Es war kein Wunder geschehen, ihre Gebete waren nicht erhört worden.
Oder vielleicht doch? Lilly erinnerte sich an den verwunderten Blick und die grenzenlose Erleichterung in Sir Rodericks Gesicht, als er sagte: »Ich habe ihn um Verzeihung gebeten und er hat meine Hand gedrückt. Er hat mich erkannt.«
Also war vielleicht doch ein Wunder geschehen.
44
Was ist ein Unkraut?
Eine Pflanze, deren Vorzüge noch nicht entdeckt wurden.
Ralph Waldo Emerson
In der Geschäftigkeit nach diesem Zwischenfall – sie musste ihren Vater rasch zu Bett bringen, Mary und Mrs Mimpurse alles haarklein erzählen und sich auch um Charlie kümmern –, sah Lilly Francis erst einmal nicht mehr.
Sie hätte ihm gern noch gedankt, dass er nach Marlow House gekommen war, und wollte gern auch noch einmal mit ihm über das Geschehen reden. Sie hatte eigentlich gehofft, dass er abends noch im Laden vorbeikommen würde, aber jetzt war es zu spät und er dachte sicher, dass sie schon schlief. Oder war er nur aus Rücksicht auf Dr. Graves nicht gekommen?
Als Lilly schließlich in ihr Nachthemd geschlüpft war und zu Bett gegangen war, konnte sie nicht einschlafen. Es lag jedoch nicht nur an den Aufregungen des Tages; sie musste vielmehr ständig über Francis Baylor nachdenken. Obwohl er der jüngste der anwesenden Männer gewesen war, hatte er die Verantwortung übernommen und vorgeschlagen, dass sie zusammen beteten. Sie dachte auch daran, wie schnell und entschlossen er bei Marys Anfall gehandelt hatte und wie freundlich er seither zu ihr gewesen war.
Sie sah seine große, athletische Gestalt, seinen kräftigen Kiefer, sein entschlossenes Kinn und seine dunkelbraunen Augen vor sich. Wie sie schon oft gedacht hatte, hatte Francis Baylor sich seit ihrer Rückkehr nach Bedsley Priors tatsächlich noch einmal sehr verändert. Oder war sie es, die sich verändert hatte?
Sie verstand jetzt, was Miss Robbins schon lange in Francis gesehen hatte, und verspürte eine ähnliche Bewunderung für ihn. Wenn sie daran dachte, dass sie ihn so entschieden zurückgewiesen hatte, empfand sie beinahe so etwas wie Bedauern.
Lilly warf sich in ihrem Bett hin und her. Trotzdem, er war doch nur ein Gehilfe, ein Geselle, in einer Apotheke. Dr. Graves war Arzt und deshalb ein Gentleman. Es konnte gut sein, dass er nach ein paar Jahren seine Praxis verlegte, ja vielleicht sogar nach London zurückkehrte. Doch irgendwie klang dieses Argument auf einmal hohl.
Aber trotz allem – woher kam es, dass sie verlegen wurde bei dem Gedanken, nach ihrem alten Freund zu fragen? Francis würde sicher morgen im Laden vorbeikommen. Dann konnte
Weitere Kostenlose Bücher