Das Geheimnis der Apothekerin
wohl keinen Kuchen, oder, Charlie?«
Er sah sie entrüstet an. »Und ob ich das tu! Das weißt du ganz genau! Vater! Lilly hat vergessen, dass ich Kuchen mag! Und dabei ist er doch mein Lieblingsessen!«
Mary warf Lilly einen wissenden Blick zu und sagte: »Dann sollst du das erste Stück bekommen, Charlie. Möchtest du ein kleines oder ein großes?«
»Ein mächtig großes, bitte, Mary.«
Die Gefahr war gebannt.
Dieser Abend war der schönste, den sie seit langer Zeit zusammen verbracht hatten. Alle blieben da und halfen beim Abwaschen. Dann scheuchte Mrs Mimpurse die Mädchen ins Bett und meinte, wegräumen würde sie das Geschirr allein. Sie erinnerte sie daran, dass ihnen ein aufregender Tag bevorstand und dass die Kutsche nach London nicht warten würde, falls sie verschliefen. An der Küchentür nahm ihr Vater Mary noch einmal in die Arme, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte. Lilly wollte ihre Freundin … nein, ihre Schwester … auch noch einmal umarmen, aber Mary ging schon die Treppe hinauf und winkte ihr nur noch zu. Nun gut. In London würden sie eine ganze Woche zusammen sein.
Am nächsten Morgen wachte Lilly früh auf und kleidete sich sorgfältig an. Sie fühlte sich ganz unerklärlich nervös bei dem Gedanken, dass sie nach London zurückkehren würde. Ihre Kleider entsprachen sicher nicht mehr der neuesten Mode und ihre Hände waren ganz schwielig vom vielen Umgang mit dem Stößel. Aber zum Glück gab es ja Handschuhe. Sie wünschte sich, sie hätte Mary gebeten, herüberzukommen und ihr mit der Frisur zu helfen. Nicht als Zofe, sondern wie Schwestern einander halfen. Ihr war ganz schwindelig bei diesem Gedanken und dem Abenteuer, das vor ihnen lag. Sie packte die Sachen, die sie gerade noch gebraucht hatte – Kamm und Bürste, Zahnschwamm und Alaun –, in ihren Koffer und schaute noch einmal nach, ob sie das Geld auch wirklich eingesteckt hatte. Dann setzte sie den Hut auf, zog den Mantel an, nahm ihr Täschchen, verließ das Schlafzimmer und ging die Treppe hinunter, ohne sich Mühe zu geben, leise zu sein. Wenn ihr Vater noch nicht wach war, musste er jetzt schnellstens aufstehen. Er hatte darauf bestanden, sich von ihnen zu verabschieden, wenn sie losfuhren. Doch in der Labor-Küche stand nicht ihr Vater und wartete, bis sie mit Getöse herunterkam.
Da stand Mrs Mimpurse. Offenbar hatte sie hastig einen Schal über ihr Nachthemd geworfen. Sie war unfrisiert und ihr Gesicht war … gebrochen. Kummer und Tränen überlagerten alles. Lilly blieb wie erstarrt stehen. Sie wusste, was passiert war, noch bevor Mrs Mimpurse die Worte sprach, die ihre Welt in Schwarz tauchten.
Teil III
Damit endet die Geschichte des Apothekers.
Auch wenn es ihn dem Namen nach nicht mehr gibt,
so hat seine Kunst doch überlebt,
und obgleich er eines Großteils der Geheimnisse,
die ihn umgaben, entkleidet ist,
wird dieses Geheimnis doch weiterleben,
solange leidende Menschen Arzneien
und Medikamente brauchen,
um die Leiden zu lindern,
die des Fleisches Erbteil sind.
C. J. S. Thompson, Mystery and Art of the Apothecary
Holde Erinn'rung! Von deiner sanften Brise sacht getragen,
setz' ich mein Segel in den Strom der Zeit.
Samuel Rogers
48
Der du hier vorübergehst, bedenke:
Wie du jetzt bist, so war ich einst,
wie ich jetzt bin, so wirst du sein.
Drum schließ Frieden mit
Christus und folge mir.
Grabinschrift, Wiltshire Notes and Queries, 1715
Mary Helen Mimpurse war im Schlaf gestorben. Nach dem, was ihre Mutter und Mr Shuttleworth, der sie untersucht hatte, sagten, war es ein friedlicher Tod gewesen. Kein Anzeichen eines Anfalls entstellte ihre schönen, friedlichen Gesichtszüge oder ihre weißen Hände. Mr Shuttleworth meinte, er habe so etwas in der Anstalt, in der er gearbeitet hatte, schon früher erlebt. Doch er tat nicht so, als wüsste er die Ursache für ihr Sterben.
Lilly glaubte nicht, dass sie Mary noch mehr hätte lieben können, nachdem sie erfahren hatte, dass sie Schwestern waren, aber dennoch war ihre Trauer durch dieses Wissen tiefer und lang anhaltender.
Wie sehr wünschte sie sich, die Wahrheit eher erfahren zu haben, auch wenn sie einsah, warum ihr Vater und Mrs Mimpurse sie geheim gehalten hatten. Sie wünschte, sie hätte die seltsame und wunderbare Tatsache, dass sie eine Schwester hatte, tiefer erkunden, begreifen und genießen können. Hatte sie sich denn nicht immer eine Schwester gewünscht? Jemand, mit dem sie Kleider und intime Geständnisse über Verehrer teilen
Weitere Kostenlose Bücher