Das Geheimnis der Apothekerin
konnte. Jemand zum Liebhaben.
Jetzt sehnte sie sich danach, noch einmal Marys liebes Gesicht zu sehen und zu erkennen, wofür sie so lange blind gewesen war. Charles Haswells Züge, gemildert durch Maude Mimpurses weichere. Charles Haswells – und Charlies – blaue Augen. Der Farbton des Haswellschen Haars, wenn auch bei Marys feinen, seidigen Strähnen zu einem Goldton aufgehellt. Und nicht zuletzt war da Marys unfehlbares Gedächtnis für die kompliziertesten Rezepte. So wie Lillys Gedächtnis für ihre Kräuter.
Jetzt schämte sich Lilly für die leichte Überlegenheit, was Lebensumstände, Intelligenz, ja selbst Aussehen betraf, die sie Mary gegenüber stets empfunden hatte. Wie sehr habe ich mich doch geirrt! Und sie kam zu dem Schluss, dass Mary die bei Weitem Klügere und Schönere von ihnen beiden gewesen war.
Während erst die Tage, dann die Wochen und Monate vergingen, verwandelte sich ihr Kummer über die Vergangenheit in Sehnsucht nach einer Zukunft, die niemals sein würde. Lilly dachte an alles, was sie und Mary zusammen versäumen würden. Sie wären Tanten ihrer jeweiligen Kinder gewesen und ihre Kinder Cousins und Cousinen. Sie dachte an die vielen schönen Stunden, die sie gemeinsam hätten genießen können, zusammen in Marys Kaffeehaus sitzend – denn es wäre ihres gewesen –, an Scones knabbernd und über die Neuigkeiten im Dorf und die Triumphe ihrer Kinder und Enkel plaudernd.
Welch ein Trost wäre es gewesen, das vertraute Gesicht behalten zu dürfen und mitverfolgen zu können, wie sich allmählich Linien und Fältchen darin abzeichneten – so wie in ihrem eigenen. Sie wären miteinander alt geworden und doch hätte jede in der anderen stets das junge Mädchen gesehen, das sie einst gewesen waren, und zwar noch lange, nachdem alle anderen nur noch zwei grauhaarige alte Schrullen in ihnen sahen. Lange, nachdem ihre Ehemänner gestorben wären – Männer schienen ja grundsätzlich früher zu sterben als Frauen –, hätten sie zusammen auf ihre Zeit gewartet, so wie sie es »eines längst vergangenen Tages« gemacht hatten, wie Mrs Kilgrove zu sagen pflegte. Alles natürlich unter der Voraussetzung, dass Mary hätte heiraten dürfen.
Aber dafür hätte Lilly schon gesorgt.
Charlie besuchte noch immer den Friedhof, wie er es gewohnt war. Aber jetzt zählte er nicht mehr die Toten, sondern unterhielt sich mit Mary. Dabei saß er in der Sonne, den Kopf an den Grabstein von Sir Henry gelehnt. Lilly glaubte nicht, dass der alte Baronet etwas dagegen gehabt hätte.
Armer Charlie , dachte Lilly. Nun hatte er noch eine Frau verloren, die er liebte. Lilly betete darum, dass ihr selbst nichts zustoßen möge.
Seit dem Feuer hatten sie angefangen, ihre Kunden zu Mr Shuttleworth zu schicken oder sogar zu Dr. Foster, wenn es nötig war. Ein paar ihrer ältesten Patienten jedoch, darunter Mrs Kilgrove und Mr Owen, weigerten sich hartnäckig, zu jemand anderem als Haswell zu gehen, und sie und ihr Vater taten für sie, was sie konnten.
Im Frühjahr nach Marys Tod kümmerten sich Lilly und ihr Vater gemeinsam um den Kräutergarten und in den Sommermonaten verkauften sie Kräuter und Heilpflanzen an Shuttleworth und andere Mediziner in der Grafschaft wie auch an den Besitzer des The George und an andere Wirtshäuser und Herbergen, die keinen eigenen Küchengarten besaßen. Sie und ihr Vater – sofern er dazu in der Lage war – halfen außerdem im Kaffeehaus aus, jetzt, wo Mary nicht mehr da war. Obwohl weder ihr Vater noch Maude es zugegeben hätten, dachte Lilly, dass die beiden großen Trost in der Gesellschaft des jeweils anderen fanden.
Als der September anbrach, traf endlich ein Brief von Francis Baylor ein. Lillys Herz wurde schwer, als sie ihn sah. Unwillkürlich presste sie eine Hand auf die Brust. Sie ging zum Lesen in den Garten hinaus.
Liebe Miss Haswell,
ich habe gerade erst von Marys Tod erfahren. Ich war fassungslos und zutiefst traurig, wie zweifellos jeder in Bedsley Priors es ist, vor allem aber Sie und Mrs Mimpurse. Sie haben mein tiefstes Mitgefühl. Wenn ich es rechtzeitig gewusst hätte, wäre ich zur Beerdigung gekommen in der Hoffnung, Ihnen in dieser dunklen Stunde ein wenig Trost geben zu können.
Obwohl meine Unterkunft mit schöner Regelmäßigkeit zu wechseln scheint, weiß ich sehr wohl, dass ich Ihnen und Ihrem Vater eine Adresse hätte geben müssen, unter der Sie mich erreichen können. Ich hatte damals jedoch meine Gründe, das nicht zu tun – die mir
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