Das Geheimnis der Apothekerin
»Rosamond war danach sehr niedergeschlagen. Nicht einmal dein süßes Gesicht konnte sie aufheitern.«
Lilly fühlte, wie der bekannte Stachel der Zurückweisung in ihre Brust drang.
»An Charlies erstem Geburtstag zeigte sich, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er konnte sich auf nichts konzentrieren. Er mochte es nicht, wenn man ihn auf den Arm nahm oder streichelte. Es dauerte sehr lange, bis er anfing zu krabbeln, zu stehen und zu laufen. Aber immerhin blieb er bei uns.«
Maude seufzte. »Harold nicht. Als Mary zwölf Jahre alt war, teilte er mir mit, dass er nicht zurückkommen würde. Ich sagte es keiner Menschenseele. Ich gebe zu, dass ich versucht war, einfach herumzuerzählen, dass er auf einer seiner Reisen gestorben sei. Der Status einer Witwe ist längst nicht so schmachvoll wie der einer verlassenen Frau. Als ich ein paar Monate später einen Brief von der Witwe aus Reading bekam, dachte ich, ich sei irgendwie schuld an seinem Tod. Er war vom Pferd gestürzt und gestorben. Könnt ihr euch das vorstellen? Er, ein Kriegsheld! Eher hätte ich gedacht, dass ein Fisch ertrinkt.« Sie nahm noch einen Schluck und starrte auf die Glut im Herd.
Rosamond lief erst drei Jahre später erneut weg. Ich sah sie mit ihrem Koffer weggehen. Sie trug ein Reisekleid. Ich wusste, dass dein Vater bei Sir Henry war, und lief hinüber, um nachzusehen, ob mit Charlie alles in Ordnung war. Du und Mary wart damals schon bei Mrs Shaw. Ich fragte Mrs Fowler, wo deine Mutter hingegangen sei, aber sie meinte, die Missus hätte ihr nichts gesagt und sie nur gebeten, auf Charlie aufzupassen, bis Charles nach Hause kam. Ich lief hinter Rosamond her. Ich sah nicht, wie sie das Boot bestieg, das Richtung Osten fuhr, aber Mrs Kilgrove hat es gesehen. Sie sagte, Mrs Haswell sei mit einem großen, dunkelhaarigen Mann in Marineuniform zusammen gewesen. Natürlich waren Mrs Kilgroves' Augen schon damals nicht mehr sehr gut.«
Quinn oder Wells? , fragte sich Lilly und rutschte auf ihrem Stuhl herum. »In London habe ich erfahren, dass Mutter einen Marineoffizier heiraten wollte, bevor sie meinem Vater begegnet ist. Doch dieser Mann hat damals eine andere geheiratet.« Sie dachte an das, was Dr. Graves ihr erzählt hatte. Hatten erst Quinn und dann auch Wells sie enttäuscht?
Mrs Mimpurse nickte verständnisvoll. Sie wirkte erschöpft vom Erzählen; ihre Augen waren stumpf und traurig. Sie betrachtete noch einmal den Brief in ihrer Hand, den sie fast vergessen hatte. »Ich habe mich immer gefragt, ob deine Mutter es wusste oder doch ahnte, das mit deinem Vater und mir. Ob es etwas mit ihrem Weggehen zu tun hatte. Aber weil es so lange her war, glaubte ich, mir keine Schuld daran geben zu müssen.« Sie nahm Lillys Hand und sah sie eindringlich an. »Ich schwöre dir, Lilly, dein Vater und ich waren nur die zwei Nächte vor nunmehr zwanzig Jahren zusammen und seither nicht mehr.«
Lilly nickte. Ihr war übel und sie fühlte sich restlos verwirrt. »Ich hatte immer Angst, dass es meine Schuld war.«
»Oh mein Liebling, warum denn das?«
Lilly holte tief Luft und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ein paar Tage, bevor sie ging, haben wir uns gestritten. Sie hatte einen Brief bekommen, was sehr selten vorkam, und wollte mir nicht sagen, von wem. Als ich nicht aufhörte zu fragen, wurde sie ärgerlich. Jetzt frage ich mich natürlich, ob dieser Brief von einem Mann war. Von diesem Offizier.«
Mrs Mimpurse überlegte. »Ein Brief würde erklären, warum sie ging. Aber es war auf keinen Fall deine Schuld.« Wieder drückte sie Lillys Hand. »Wenn jede Frau nach einem Streit mit ihrer Tochter wegliefe, wäre keine einzige Mutter in England mehr zu Hause.« Sie warf einen Blick zu Mary hinüber, den ihre Tochter mit verständnisinnigem Ausdruck erwiderte.
Lilly fühlte sich, als sei ihr ein Stein von der Brust gefallen. Sie nahm Maude den Brief ab und las die wenigen Zeilen noch einmal durch. »Es klingt, als hätte sie damit gerechnet, dass Sie und mein Vater heiraten. Aber wie hätten Sie das tun können?«
Maude Mimpurse holte ganz tief Luft. »Ja, wie hätten wir das tun können?«
An einem kühlen Herbstnachmittag sah Lilly Roderick Marlow vor dem Grab seines Vaters stehen. Er trug einen schwarzen Trauermantel. Sir Henry war vor vierzehn Tagen beerdigt worden. Die Dorfbewohner waren zahlreich zu seiner Beerdigung erschienen. Auch Lilly und ihr Vater waren hingegangen. Sie hatte bereits ihr Beileid ausgesprochen,
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