Das Geheimnis der Apothekerin
drückte damit zunächst den Mund des Mannes weit auf, dann spähte sie tief in den Rachenraum hinunter. »Treten Sie bitte beiseite. Ich brauche mehr Licht.«
Jemand hielt eine Lampe über sie. Da war es. Ein weißer Gegenstand steckte in seiner Kehle. Schnell, aber vorsichtig führte sie das Instrument an dem Hindernis vorbei, um es nicht noch weiter in die Kehle hinunterzudrücken. Dann benutzte sie seine Spitze als Hebel und stieß und zog gleichzeitig. Dies zusammen mit dem Würgereflex genügte; Mr Price-Winters hustete den Gegenstand aus.
»Da«, verkündete sie, als das Ding – es sah aus wie ein rundes Pfefferminzbonbon – heraussprang.
Mr Price-Winters hustete und würgte und schnappte nach Luft. Er kam rasch wieder zu sich. Seine Frau umarmte ihn unbeholfen, während er noch dalag. »Gott sei Dank!«
Amen , fügte Lilly im Stillen hinzu, dankbar, dass Christinas Vater die lebenspendende Atemluft nicht länger versagt war.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Personen um sie herum murmelten und sie überrascht, ja manche sogar missbilligend, anstarrten. Sie blickte auf in der Hoffnung, ihre Tante und ihren Onkel zu sehen, doch statt ihrer stand Mr Graves hinter ihr, totenblass und mit versteinertem Gesicht. War er die ganze Zeit da gewesen? Warum hatte er ihr nicht geholfen?
Eine ferne Stimme rief: »Der Arzt ist da!«
Ein geckenhafter Gentleman in Abendkleidung betrat mit großer Zurschaustellung den Saal, eine schwarze Ledertasche in der Hand. »Machen Sie bitte Platz, lassen Sie mich durch!«
Seine Augen weiteten sich, als der das offene Medizinkästchen, die Schlundsonde und die junge Frau sah, die neben seinem Patienten kniete.
»Was ist hier passiert?«
Lilly roch Alkohol im Atem des Arztes. Er war ganz offensichtlich von einem Dinner oder einer Gesellschaft weggerufen worden.
»Mr Price-Winters war ein Pfefferminzbonbon im Rachen stecken geblieben«, erklärte sie ruhig. »Er hat keine Luft mehr bekommen.«
Mrs Price-Winters machte eine schwache Handbewegung. »Sie hat das Ding da genommen und es herausgeholt.«
»Eine Schlundsonde? Meine Güte, Mädchen, was haben Sie sich dabei gedacht? Sie hätten seine Speiseröhre durchstechen können!«
»Es geht mir gut«, flüsterte Mr Price-Winters heiser. »Nur die Kehle tut mir höllisch weh.«
»Und das ist kein Wunder!« Der Arzt drehte sich zu Lilly um. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, einfach einen Menschen zu operieren!«
Lilly war fassungslos. Warum war er so ärgerlich? Hatte sein trunkener Zustand seine Urteilskraft getrübt?
»Es tut mir leid, Dr. Porter«, beschwichtigte ihn Mrs Willoughby. »Von uns anderen wusste keiner, was zu tun war.«
Lilly zögerte. Sie hatte doch sicherlich nichts so Verkehrtes getan. »Ich sah keine Alternative …«
»Hätten wir gewusst, dass Sie so schnell hier sein würden«, fuhr Mrs Willoughby fort und warf ihr einen kühlen Blick zu, »dann hätten wir sie aufgehalten.«
Dr. Porter starrte Lilly an. »Sie hätten ihn umbringen können.«
»Im Gegenteil, Sir.« Adam Groves stand jetzt neben ihnen. »Er hätte sterben können, wenn sie nichts unternommen hätte.«
»Graves … Sie haben das zugelassen?«
»Nicht direkt …«
Seine Worte gingen unter in Dr. Porters Murmeln und seiner Anweisung, Mr Price-Winters eine starke Dosis Laudanum zu verabreichen; eine sehr viel stärkere, als Lilly für nötig hielt.
Da die Krise vorüber war, begann die Menge sich zu zerstreuen. Die Leute holten ihre Mäntel und ließen ihre Wagen vorfahren.
Mrs Price-Winters streckte Lilly die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen, meine Liebe.«
Lilly nahm die Mutter ihrer Freundin in den Arm. »Ich bin froh, dass es ihm wieder gut geht.« Dann fügte sie leiser hinzu: »Lassen Sie ihn drei Mal täglich mit Salzwasser und einem Tropfen Laudanum gurgeln, dann wird seine Kehle rasch heilen.«
»Komm, Lillian«, rief Tante Elliott. »Wir wollen aufbrechen.«
Doch als sie gerade gehen wollte, hörte sie Dr. Porter noch fragen: »Was hat sie Ihnen gesagt?« Mrs Price-Winters Antwort hörte sie nicht, aber der Arzt rief hinter ihr her: »Was glauben Sie, wer Sie sind? Erst einen Menschen operieren und dann eine Behandlung verschreiben?«
Mr Graves räusperte sich und begann schwach: »Ich muss sagen, Dr. Porter, die junge Dame hat rascher reagiert als ich, und sie hat das Richtige getan. Tadeln Sie sie nicht dafür, dass sie den Mann gerettet hat.«
Lilly wünschte sich im Stillen, Mr Graves hätte seine
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