Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
Entschluss zum Wohle seiner Knochen fassen konnte, hatte Bruder Wynstan schon seine Kutte bis über die Knie gerafft und sprang wie ein junges Zicklein die Böschung hinunter.
»Verdammmich!«, wiederholte der Burggraf. Stumm schwor er, Bruder Fridegist den dürren Hals umzudrehen, während er dem jungen Mönch nachstarrte, der mit Übelkeit erregender Geschwindigkeit den Abhang hinuntersauste. Dann stopfte er fluchend die Enden seines Umhangs in den Schwertgürtel, damit er sich im Gestrüpp nicht verfinge, straffte sich und schlitterte dem jungen Mönch hinterher.
Ein Riss zierte seine Beinlinge; Kletten, Zweige und Dornen hingen an seinen Stiefeln, ebenso am Saum seines Gewandes, und seine Hände brannten von ihrer Bekanntschaft mit den Brennnesseln, als Bandolf am Fuß des Pfades zum Stehen kam. Die Tunika klebte ihm schweißnass am Leib.
»Verdammmich!«, knirschte er ein drittes Mal und warf Bruder Wynstan einen finsteren Blick zu. Der halsbrecherische Abstieg hatte den jungen Mönch offenbar in fröhliche Stimmung versetzt. Obgleich seine nackten Beine ebenso zerkratzt und mit roten Pusteln übersät waren wie die Hände des Burggrafen, leuchteten seine blauen Augen vor Freude.
»Als Kinder haben Prosperius, Adelbald und ich hier gespielt. Wer schneller unten war«, rief Wynstan lachend. »Natürlich war es verboten. Und wenn wir ertappt wurden, mussten wir ohne Abendmahlzeit schlafen gehen. Doch das hinderte uns nicht daran, es wieder zu tun.«
»Du hättest mich warnen können«, brummte Bandolf ungnädig.
Wynstan grinste, versagte sich jedoch den Hinweis, dass er das wohl getan hatte. Leichtfüßig lief er über den schmalen Steg, der am Fuß des Trampelpfads über den Bach führte. Um einiges vorsichtiger folgte ihm der Burggraf.
Als sie am gegenüberliegenden Bachufer angekommen waren, deutete Wynstan in Richtung Süden. »Nicht mehr weit von hier ist der Hohlweg, der zum Buchenfels hinaufführt. «
Der Waldpfad am Bach entlang war größtenteils ebenerdig, und sie kamen rasch voran. Der abenteuerliche Abstieg vom Mittelberg in die Senke hatte Bandolf noch hungriger werden lassen, und er spürte, dass sein Magen leise vor sich hinrumpelte.
Mit einem verdrossenen Brummen dachte er an seinen täglichen Kampf mit Ingild um mehr Fleisch und Würze auf seiner Tafel und fragte sich, mit welcher Ungenießbarkeit sie heute wohl aufwarten würde. Dann dachte er, wie sehr es seinen Kaplan verdrießen würde, dass er ihm Bruder Wynstan zur Seite stellte, und sein Gesicht heiterte sich merklich auf.
Just hatten sie den Hohlweg zur Buchenburg erreicht, als seine Gedanken wieder zur misslichen Lage seines Schreibers zurückkehrten.
»Es will mir nicht in den Kopf, was Prosperius bewogen haben könnte, das Kloster wieder aufzusuchen«, bemerkte er. »Unmöglich kann er doch geglaubt haben, er hätte sich in zwei Jahren so sehr verändert, dass man ihn dort nicht erkennen würde.«
Bruder Wynstan, der ihm um einen Schritt voraus war, blieb stehen und drehte sich nach ihm um. »Wovon sprecht Ihr?«, fragte er, offenkundig verwirrt.
Auch Bandolf blieb stehen. »Bis zum Tag der Sonnwendfeier verschanzte sich Prosperius hinter den Mauern der Burg und sträubte sich mit Händen und Füßen, sie zu verlassen«, erklärte er. »Jetzt ist mir natürlich klar, warum er das tat. Doch am Tag des Sonnwendfestes schickte ich ihn nach Egininkisrod. Anstatt darauf bedacht zu sein, dass man ihn nicht entdeckte, muss er aber schnurstracks zum Kloster gegangen sein. Und ich frage mich, wieso er das tat? Er muss doch gewusst haben, dass man ihn dort sogleich dingfest machen würde, sobald ihn einer seiner ehemaligen Mitbrüder erkennen würde.«
Der junge Mönch runzelte die Stirn. »Aber Prosperius ist doch gar nicht im Kloster gewesen. Wie kommt Ihr nur darauf?«
»Er muss dort gewesen sein«, beharrte Bandolf. »Wie hätte er denn sonst bei Bruder Adelbalds Leiche gefunden werden können?«
Langsam schüttelte Bruder Wynstan den Kopf. »Adelbald wurde nicht in Sankt Mauritius getötet«, sagte er. »Man fand ihn erdolcht in der Höhle der heiligen Liutbirg. Und dort fand man auch Prosperius«, sagte er. Leise fügte er hinzu: »Ich hatte geglaubt, Ihr wüsstet das.«
»Bei allen Heiligen!« Ungläubig starrte Bandolf den jungen Mönch an. Niemand hatte es für nötig befunden, ihm davon zu berichten! Der Zorn trieb ihm die Hitze ins Gesicht. Längst hätte er sich in dieser Höhle nach eventuell vorhandenen Spuren
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