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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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errechnet. Aber damit haben Sie sich nicht zufriedengeben wollen.«
    Der Professor saß mit verschränkten Armen da und hörte ihm aufmerksam zu.
    »Zuerst sollte man sich nur die Zahlen von 1 bis 9 genauer anschauen. Um die 10 kümmern wir uns dann später. Die mittlere Position zwischen 1 und 9 nimmt die 5 ein. Das heißt, die 5 ist … die 5 ist …«
    »Der Durchschnitt«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
    »Ja, der Durchschnitt. Wie man den Durchschnitt berechnet, haben wir noch nicht in der Schule gelernt, deshalb hat meine Mutter mir dabei geholfen. Wenn man nun die Zahlen von 1 bis 9 addiert und durch 9 teilt, erhält man 5. Multipliziert man die 5 mit 9 erhält man 45. Und das ist auch die Summe der Zahlen von 1 bis 9. Und hier kommt die 10, die wir solange außer Acht gelassen haben, wieder ins Spiel«, erklärte Root, griff sich den Filzstift und schrieb die Formel auf:
    5 × 9 + 10 = 55
    Der Professor rührte sich nicht. Mit verschränkten Armen betrachtete er stumm unsere Formel.
    Allmählich überkam mich das Gefühl, dass meine Eingebung nur Schwachsinn war. Eigentlich hätte ich es mir ja denken können. Wie konnte ich mir bloß einbilden, dass ich auf einen Gedanken kommen würde, der irgendwie von Bedeutung sein konnte und noch dazu einen Gelehrten wie ihm Freude bereiten würde?
    In dem Augenblick stand der Professor auf und klatschte Beifall – völlig unerwartet. Es war eine von Herzen kommende Geste, als hätten wir die Lösung für den großen Fermatschen Satz gefunden. Sein Applaus erfüllte nach und nach das ganze Haus.
    »Großartig! Was für eine elegante Gleichung! Das ist eine Glanzleistung, Root!«
    Der Professor nahm Root so fest in seine Arme, dass er ihn fast erdrückte.
    »Das ist absolut fantastisch! Eine solche Gleichung aufzustellen …«
    »Schon gut! Ich krieg’ keine Luft mehr!« brachte Root mühsam hervor, doch seine Stimme erreichte nicht das Ohr des Professors.
    Die Lobeshymnen nahmen kein Ende. Er überschlug sich förmlich und wollte unbedingt den kleinen Jungen mit seinem flachen Schädel davon überzeugen, dass die Formel, die er ausgetüftelt hatte, eine bemerkenswerte Schönheit besaß.
    Als ich sah, wie Root die ganzen Lorbeeren bekam, tröstete ich mich mit der Tatsache, dass ich selbst einen erheblichen Anteil an der Lösung hatte. Vergessen war mein mangelndes Selbstvertrauen und das verzerrte Selbstbild von vorhin. Ich empfand einfach nur noch Stolz. Noch einmal warf ich einen Blick auf die Zeile, die Root auf den Notizblock geschrieben hatte:
    5 × 9 + 10 = 55
    Obwohl ich nie Mathematik studiert hatte, wusste ich, dass die Formel in abstrakten algebraischen Symbolen noch eindrucksvoller wirken würde:

    Es war eine Meisterleistung.
    Die Klarheit dieser Lösung war umso eindrucksvoller, wenn man an die konfuse Ausgangssituation dachte, aus der heraus sie entstanden war. Ich hatte ja zunächst völlig im Dunkeln getappt. Es war, als würde man einen Kristallsplitter in einer Höhle ausgraben. Ich musste innerlich kichern über mein Eigenlob, weil der Professor meinen Verdienst doch gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
    Root kam schließlich frei. Wir beide verneigten uns voller Stolz und Dankbarkeit vor dem Professor, als hätten wir auf einem Mathematiker-Kongress einen akademischen Vortrag gehalten.
    An jenem Tag verloren die Tigers gegen die Dragons 2 : 3. Obwohl sie durch einen Treffer von Wada bereits mit zwei Punkten in Führung gelegen hatten, wendete sich das Blatt schließlich, als die Dragons mit zwei Homeruns hintereinander den Sieg holten.

4
    Der Professor liebte Primzahlen über alles auf der Welt. Natürlich hatte ich schon einmal von ihrer Existenz gehört, aber es niemals für möglich gehalten, dass sie ein Objekt von so großer Leidenschaft sein könnten. Doch wie exzentrisch das Objekt seiner Liebe auch sein mochte, er war ein hingebungsvoller Liebhaber. Er behandelte sie zärtlich, ließ es nie an Demut fehlen, er hofierte sie und wich niemals von ihrer Seite.
    Sei es an seinem Schreibtisch, im Arbeitszimmer oder beim Abendessen, wenn sich das Gespräch um Mathematik drehte, ging es meistens um Primzahlen. Zuerst verstand ich überhaupt nicht, was an ihnen so faszinierend sein sollte. Sie wirkten eher wie hartnäckige Gesellen, die sich nur durch 1 und sich selbst teilen ließen. Aber mit der Zeit gerieten auch wir in den Sog seiner Begeisterung und verstanden, warum der Professor die Primzahlen so verehrte. Sie tauchten ganz konkret in unserer

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