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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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Glückstage gibt es nicht oft, nicht wahr?«
    »Nein, ganz bestimmt nicht, Root. Komm gut nach Hause und geh zeitig schlafen, denn morgen ist doch wieder Schule, oder?«
    Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel, doch bevor Root antworten konnte, hatte er bereits die Augen geschlossen. Seine Lider waren gerötet, die Lippen ausgetrocknet und am Ansatz seiner Bartstoppeln hatten sich Schweißperlen gebildet. Ich befühlte vorsichtig seine Stirn.
    Der Professor hatte hohes Fieber.
    Ich überlegte kurz und beschloss dann, dass wir nicht in unsere Wohnung zurückkehren, sondern beim Professor übernachten. Ich konnte schließlich keinen kranken Menschen im Stich lassen, und schon gar nicht ihn. Ehe ich mir den Kopf zerbrach wegen eines Verstoßes gegen die Dienstvorschriften, wollte ich lieber hier Wache halten und mich um den Kranken kümmern.
    Ich durchforstete die ganze Wohnung, um ein Fieberthermometer, einen Eisbeutel und fiebersenkende Medikamente aufzutreiben. Aber wie zu erwarten war, blieb meine Suche erfolglos. Als ich aus dem Fenster schaute, erkannte ich, dass noch Licht im Haupthaus brannte, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, einen Schatten an der Hecke vorbeihuschen zu sehen. Ich überlegte einen Moment, die Witwe um Hilfe zu bitten, aber dann fiel mir ein, dass sie mit den Angelegenheiten des Gartenpavillons nicht belästigt werden wollte, und zog die Vorhänge zu.
    Mir blieb also nichts anderes übrig, als selbst zur Tat zu schreiten. Ich legte zerkleinerte Eiswürfel in eine Plastiktüte und wickelte ein Handtuch darum. Damit kühlte ich den Nacken, die Achseln und Leisten des Professors. Danach packte ich ihn mit einer Winterdecke warm ein und kochte Tee, um seinen Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Das tat ich auch, wenn mein Sohn Fieber hatte.
    Für Root richtete ich das Sofa im Arbeitszimmer her. Darauf stapelten sich Bücher, aber als ich sie beiseitegeräumt hatte, erwies es sich als bequeme Schlafstätte. Root machte sich zwar Sorgen über den Zustand des Professors, doch bald sah ich, dass er eingeschlafen war. Seine Baseballkappe lag auf einem Stapel Mathematikbücher.
    »Wie fühlen Sie sich?« fragte ich den Professor. »Haben Sie Schmerzen? Möchten Sie etwas trinken?«
    Er antwortete nicht. Mir war jedoch klar, dass es keine Bewusstseinstrübung sein konnte, sondern dass er einfach nur schlief. Um das festzustellen, musste man kein Arzt sein. Sein Atem ging ein wenig unregelmäßig, aber es gab keine Anzeichen dafür, dass er Schmerzen hatte. Mit geschlossenen Lidern wirkte er ganz friedlich, so als würde er durch tiefe Traumwelten geistern. Auch wenn ich den Eisbeutel an eine andere Stelle legte oder ihn mit dem Handtuch trocken rieb, blieb er reglos liegen, ohne aufzuwachen.
    So entblößt, ohne den mit Zetteln bespickten Anzug am Leib, wirkte er kraftlos und mager, selbst wenn man sein fortgeschrittenes Alter in Betracht zog. Seine wächsern verschrumpelte Haut war schlaff, und den Muskeln an Armen, Oberschenkeln und Bauch fehlte jegliche Spannkraft. Auch den Fingernägeln war anzusehen, wie ausgemergelt er war. Ich erinnerte mich an den Ausspruch eines Mathematikers mit schwierigem Namen, den der Professor einmal zitiert hatte:
    »Gott existiert, weil die Mathematik konsistent ist; der Teufel existiert, weil wir es nicht beweisen können.«
    Der Teufel der Mathematik hatte jedenfalls erheblich an der körperlichen Substanz des Professors gezehrt.
    Nach Mitternacht konnte ich an seiner Haut fühlen, dass das Fieber gestiegen war. Sein feuchter Atem war heiß, und er schwitzte unentwegt, sodass die Eiswürfel im Beutel im Nu schmolzen. Besorgt fragte ich mich, ob ich nicht besser zu einer Apotheke gehen sollte. War es falsch gewesen, ihn gegen seinen Willen einem solchen Menschenandrang auszusetzen? Würde das Fieber in seinem Gedächtnis noch mehr Schaden anrichten? Aber dann sagte ich mir, dass alles in Ordnung sei, solange er fest schlafen würde.
    Ich selbst wickelte mich in das Plaid ein, das wir ins Stadion mitgenommen hatten, und legte mich auf den Boden neben seinem Bett.
    Mondlicht schien durch den Spalt zwischen den Gardinen auf den Boden. Das Baseballspiel war bereits in weite Ferne gerückt.
    Links neben mir schlief der Professor, rechts neben mir Root. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich alle möglichen Geräusche hören: das leise Schnarchen des Kranken, das Rascheln der Decke, das Knacken des schmelzenden Eises, Roots Gemurmel im Schlaf, das Knarren

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