Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
Vom Netzwerk:
sagte: »Sie dürfen Ihr Kind nie alleine lassen.«
    Vielleicht hatte Root sich an einem Donut verschluckt und dann keine Luft mehr bekommen. Oder er hatte einen Stromschlag erlitten, als er das Kabel vom Radio in die Steckdose tat. Schreckliche Bilder tauchten in meinem Kopf auf. Vor Angst zitterte ich am ganzen Körper. Während ich aus dem Haus stürmte, musste ich wüste Beschimpfungen des Steuerberaters über mich ergehen lassen, da ich seiner Gattin keine vernünftige Erklärung für meinen plötzlichen Aufbruch geben konnte.
    Nach knapp einem Monat wirkte der Gartenpavillon fast ein wenig fremd. Die defekte Klingel, die verschlissenen Möbel, der verwilderte Garten – alles war noch wie zuvor, aber als ich meinen Fuß über die Schwelle setzte, spürte ich sofort eine unheilvolle Stimmung. Zum Glück war Root nichts zugestoßen, was mich erst einmal aufatmen ließ. Er war weder erstickt, noch hatte er einen Stromschlag erlitten. Wohlbehalten saß er neben dem Professor am Esstisch. Zu seinen Füßen lag der Schulranzen.
    Die beklemmende Atmosphäre rührte daher, dass sich in dem engen Raum noch zwei weitere Personen aufhielten: die Witwe aus dem Haupthaus und eine mir unbekannte Frau mittleren Alters, vermutlich die neue Haushälterin. Es betrübte mich zu sehen, dass sich eine Fremde in den Raum gedrängt hatte, der in meiner Erinnerung nur von uns dreien – dem Professor, Root und mir – eingenommen worden war. Die Luft war zum Zerreißen gespannt.
    Kaum hatte ich wahrgenommen, dass Root nichts zugestoßen war, fand ich seine Anwesenheit hier im Gartenpavillon äußerst merkwürdig. Die Witwe hatte am Esstisch Platz genommen. Sie war elegant gekleidet, genauso wie damals bei meinem Vorstellungsgespräch. In der linken Hand hielt sie wie üblich ihren Stock.
    Root wirkte ziemlich kleinlaut und wagte es nicht, mich anzuschauen. Der Professor hatte seine Denkerpose eingenommen. Sein Bewusstsein konzentrierte sich auf einen fernen Punkt, wo sein Blick sich mit keinem anderen kreuzen musste.
    »Es tut mir leid, dass ich Sie von der Arbeit wegholen musste«, sagte die Witwe. »Bitte nehmen Sie Platz.«
    Sie wies auf einen Stuhl. Ich war noch ganz außer Atem, da ich den ganzen Weg vom Bahnhof hierher gerannt war, und brachte kaum einen Ton heraus.
    »Haben Sie keine Scheu, setzen Sie sich«, forderte sie mich abermals auf. »Und Sie bringen ihr bitte eine Tasse Tee.«
    Die neue Haushälterin, von der ich nicht wusste, ob sie auch von der Akebono-Agentur vermittelt worden war, erhob sich und ging in die Küche. Trotz ihrer betont höflichen Ausdrucksweise merkte ich sehr wohl, wie empört die alte Dame war, so wie sie sich mit der Zunge nervös über die Lippen fuhr und mit den Fingernägeln auf die Tischplatte trommelte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und nahm schweigend Platz. Für einen Moment herrschte Stille.
    »Sie beide …« Nach einer Weile ergriff sie das Wort. »Was denken Sie sich eigentlich dabei?«
    Ich holte tief Luft, bevor ich antwortete:
    »Hat mein Sohn irgendetwas angestellt?«
    Root knetete auf seiner Baseballkappe herum, die auf seinem Schoß lag.
    »Verzeihen Sie, aber ich stelle hier die Fragen. Wieso muss das Kind einer Haushälterin meinem Schwager einen Besuch abstatten?«
    Durch das Trommeln auf der Tischplatte war der Lack von ihren manikürten Nägeln abgeblättert, sodass auf dem Tisch kleine Partikel lagen.
    »Ich habe mir doch nichts Böses dabei gedacht …«, sagte Root mit gesenktem Kopf.
    »Das Kind einer Haushälterin, die obendrein schon lange nicht mehr bei uns beschäftigt ist«, unterbrach sie ihn barsch.
    Als sie abermals das Wort »Kind« betonte, blickte sie weder Root noch den Professor an. Sie tat so, als wären die beiden überhaupt nicht anwesend.
    »Das ist doch gar nicht der Fall. Von
müssen
kann ja wohl nicht die Rede sein …«, erwiderte ich, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, worauf sie überhaupt hinauswollte. »Ich denke, er wollte einfach nur Ihren Schwager sehen.«
    »Ich habe die
Lou Gehrig Story
in der Bücherei ausgeliehen und wollte sie ihm zum Lesen geben«, erklärte Root und schaute endlich auf.
    »Was kann ein zehnjähriges Kind mit einem alten Mann gemein haben?« fragte die Witwe, ohne auf Roots Bemerkung einzugehen.
    »Es ist mir außerordentlich unangenehm, dass mein Sohn hier ohne Erlaubnis aufgetaucht ist und Sie belästigt hat. Ich habe meine Aufsichtspflicht verletzt. Verzeihen Sie mir bitte.«
    »Davon spreche ich

Weitere Kostenlose Bücher