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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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ich mir vorstellte, wie sie mit ihrem lahmen Bein hinter der Hecke lauerte, auf den Stock gestützt, verrauchte mein Zorn auf sie, und ich empfand fast Mitleid mit ihr.
    Mir kam der Verdacht, dass die Sache mit dem Geld nur ein Vorwand und sie in Wahrheit eifersüchtig auf mich war. Es konnte durchaus sein, dass sie auf ihre Art und Weise eine große Zuneigung für den Professor hegte und mich deshalb als Bedrohung empfand. Indem sie mir den Zugang zum Haupthaus verbot, wollte sie vielleicht verhindern, dass ich hinter das Geheimnis ihrer Beziehung kam.
    Ich trat zum zweiten Mal meinen Dienst am 7. Juli an, am Tag des Tanabata-Festes. Als der Professor mich am Eingang empfing, erinnerten mich die Zettel an seinem Jackett an die bunten Papierstreifen, auf welche die Kinder an diesem Feiertag ihre Wünsche schreiben. Die Notiz mit meinem Porträt und dem Wurzelzeichen daneben hing immer noch am Saum seines Ärmels.
    »Wie viel haben Sie bei Ihrer Geburt gewogen?«
    Es war wie üblich eine Frage, die mit Zahlen zu tun hatte, aber diese Variation war mir neu.
    »3.217 Gramm.«
    Ich hatte keine Ahnung, wie viel ich gewogen hatte, also nannte ich Roots Gewicht.
    »2 hoch 3.271 minus 1 ergibt eine Mersennesche Primzahl«, murmelte der Professor, bevor er in sein Arbeitszimmer verschwand.
    Die Tigers hatten es inzwischen geschafft, wieder oben mitzuspielen. Dass Yufune in einem Spiel keinen Treffer zugelassen hatte, spornte auch seine Teamkameraden zu Höchstleistungen an. Aber Ende Juni ging alles schief. Die Tigers mussten sechs Niederlagen in Folge einstecken und wurden von den Giants auf den dritten Tabellenplatz verwiesen.
    Die Haushälterin, die für mich eingesprungen war, hatte ganze Arbeit geleistet. Während ich aus Angst, den Professor bei seinen Studien zu stören, seine Bücher so gut wie nie anrührte, hatte sie alles, was nicht mehr ins Regal passte, entweder auf den Kleiderschrank oder unter das Sofa gepackt, wobei jede noch so kleine Nische ausgenutzt wurde. Es sprang einem sofort ins Auge, dass ihr einziges Ordnungskriterium das Format war. Es sah zweifellos ordentlicher aus, aber damit hatte sie das System, das sich hinter dem jahrelang kultivierten Chaos verbarg, zerstört.
    Plötzlich fiel mir die Keksdose mit den Baseballkarten ein, und ich schaute besorgt nach, ob sie noch da war. Zum Glück befand sie sich noch am selben Ort. Nur diente sie jetzt als Buchstütze. Der Inhalt war unversehrt.
    Ganz gleich, wie ordentlich sein Arbeitszimmer nun sein mochte, der Professor war der Alte geblieben. Innerhalb von zwei Tagen waren die Bemühungen meiner Kollegin zunichtegemacht, und es herrschte das übliche Durcheinander.
    Ich hatte den Zettel, den der Professor an dem Tag, als ich von seiner Schwägerin mit Anschuldigungen überhäuft wurde, auf den Esstisch gelegt hatte, sorgfältig aufbewahrt. Glücklicherweise hatte die Witwe nichts gesagt, als sie bemerkte, dass ich ihn an mich genommen hatte. Er steckte zusammengefaltet neben einem Foto von Root in meinem Portemonnaie.
    Um etwas über die geheimnisvolle Formel herauszubekommen, ging ich in die städtische Bibliothek. Der Professor hätte es mir sicher erklärt, wenn ich ihn darum gebeten hätte, aber ich dachte mir, dass ich es vielleicht besser verstehen würde, wenn ich mich eine Weile alleine damit beschäftigte. Es war zwar nur so ein Gefühl und nicht wirklich begründet, aber während der kurzen Zeit mit dem Professor hatte ich gelernt, Zahlen und Symbolen gegenüber meine Vorstellungskraft walten zu lassen, genauso wie ich es bei der Musik oder der Literatur tat. Diese sehr kurze Formel mutete so bedeutsam an, dass man sie nicht einfach beiseitelegen konnte.
    Das letzte Mal hatte ich die Bücherei im vorigen Sommer aufgesucht, um für Root ein Buch über Dinosaurier auszuleihen, mit denen er sich in den großen Ferien beschäftigen wollte. Der Saal, in dem die Mathematikbücher standen, lag ganz hinten im ersten Stock. Hier war es totenstill. Außer mir war keine Menschenseele zugegen.
    Im Gegensatz zu den Büchern des Professors, die viele Gebrauchsspuren aufwiesen – Fingerabdrücke, Eselsohren, Krümel und andere Essensreste zwischen den Seiten –, wirkten die Bände hier dermaßen sauber und ordentlich, dass sie mir fast unnahbar erschienen. Es gab bestimmt welche darunter, die ihr Dasein in diesen Regalen fristen würden, ohne jemals aufgeschlagen zu werden. Ich nahm den Zettel des Professors aus meinem Portemonnaie.
    e i
π + 1 = 0
    Seine

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