Das Geheimnis der Eulerschen Formel
nicht. Ich hätte gerne gewusst, wieso eine Haushälterin, die entlassen wurde, ihr Kind vorschickt, um meinen Schwager zu kontaktieren. Was beabsichtigen Sie damit?«
Das Trommeln ihrer Fingernägel wurde immer lauter.
»Was ich beabsichtige? Das muss ein Missverständnis sein. Mein Sohn wollte lediglich Ihren Schwager besuchen. Er hat ein interessantes Buch entdeckt, das er ihm zum Lesen geben wollte. Reicht das nicht als Grund?«
»Das Kind hat sicher keine Hintergedanken. Die Frage ist, was Sie dabei im Schilde führen?«
»Ich führe gar nichts im Schilde. Ich will nur, dass mein Sohn glücklich ist.«
»Und wieso ziehen Sie meinen Schwager in die Sache hinein? Erst gehen Sie mit ihm aus, und dann übernachten Sie hier, um ihn zu pflegen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Sie darum gebeten hätte.«
Die neue Angestellte brachte den Tee. Sie war eine vorbildliche Haushälterin. Lautlos stellte sie die Tassen vor uns hin. Es war klar, dass ich von ihr keine Unterstützung erwarten durfte. Sie verschwand sogleich wieder in der Küche, da sie offensichtlich nichts mit dieser Angelegenheit zu tun haben wollte.
»Ich sehe ein, dass ich gegen meine Dienstpflicht verstoßen habe. Aber ich hatte nichts Böses im Sinn.«
»Geht es um Geld?«
»Geld?«
Ich war so überrascht, dass sich meine Stimme fast überschlug.
»Wie können Sie so etwas sagen? Und dann auch noch vor meinem Sohn?«
»Was anderes kann ich mir nicht vorstellen. Sie wollen sich offenbar bei meinem Schwager einschmeicheln.«
»Das ist lächerlich!«
»Sie sind doch entlassen worden. Wir haben nichts mehr mit Ihnen zu schaffen.«
»Verzeihen Sie bitte …« Die neue Haushälterin hatte ihre Schürze abgenommen und hielt ihre Tasche in der Hand. »Ich habe für heute alles erledigt und würde mich gerne verabschieden.«
Sie verschwand genauso geräuschlos, wie sie vorhin den Tee serviert hatte.
Wir schauten ihr nach.
Der Professor schien immer noch in Gedanken versunken, während Root weiterhin auf seiner Baseballkappe herumknetete. Ich holte tief Luft.
»Es geht um Freundschaft«, sagte ich schließlich. »Einen Freund darf man doch besuchen, oder?«
»Wer soll hier mit wem befreundet sein?«
»Mein Sohn und ich mit Ihrem Schwager.«
Die Witwe schüttelte entrüstet den Kopf.
»Sie machen sich falsche Hoffnungen. Mein Schwager hat keine Besitztümer. Das Erbe seiner Eltern hat er für sein Mathematikstudium vergeudet, und es ist nichts dabei rausgekommen. Nicht ein einziger Yen.«
»Aber es geht mir doch gar nicht um Geld.«
»Mein Schwager hat keine Freunde. Es ist noch nie jemand hier gewesen, um ihn zu besuchen.«
»Nun, dann sind Root und ich eben seine ersten Freunde.«
Plötzlich stand der Professor auf.
»Hört auf damit. Ihr solltet den Jungen nicht so quälen!«
Er holte ein Stück Papier aus seiner Jackentasche und schrieb etwas darauf. Dann legte er den Zettel auf den Esstisch und verschwand in seinem Zimmer. Seine Geste war sehr resolut, als hätte er sie lange vorbereitet. Er wirkte weder erzürnt noch aufgeregt, sondern ihn umgab eine unerschütterliche Ruhe.
Wir starrten schweigend auf den Zettel. Eine ganze Weile saßen wir reglos da. Auf dem Zettel stand nur eine einzige Zeile. Es war eine Formel:
e i
π + 1 = 0
Keiner traute sich den Mund aufzumachen. Selbst die Fingernägel der Witwe trommelten nicht mehr auf die Tischplatte. Ich bemerkte, wie das Misstrauen langsam aus ihrem Blick wich. Ihre Augen verrieten, dass auch sie einen Sinn für die Schönheit der Mathematik hatte.
Kurz darauf wurde mir von der Agentur mitgeteilt, dass ich wieder für den Professor arbeiten sollte. Den Grund hierfür erfuhr ich nicht. Ob die Witwe ihre Meinung geändert hatte, oder ob meine Nachfolgerin mit der Arbeit überfordert war und die Agentur keinen Ersatz zur Verfügung hatte? Auf jeden Fall zierte die Karteikarte des Professors ein elftes Sternchen. Allerdings hatte ich nie herausfinden können, ob sich das Misstrauen der Witwe mir gegenüber inzwischen gelegt hatte.
Egal, wie oft ich mir die Situation auch durch den Kopf gehen ließ, ich konnte ihre Entrüstung einfach nicht nachvollziehen. Mir war schleierhaft, wieso sie sich bei der Agentur beschwert und meine Kündigung veranlasst hatte. Genauso wenig wie ich verstehen konnte, weshalb sie sich über Roots Besuch so empört hatte.
Ich war mir sicher, dass sie damals im Garten gewesen war, als wir abends von dem Baseballspiel nach Hause gekommen waren. Wenn
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