Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Handschrift war unverkennbar: die Rundungen, an einzelnen Stellen ein wenig verwischt und zittrig. Weder grob noch hastig, sondern sorgsam niedergeschriebene Ziffern und Symbole. Auf dem großen weißen Blatt war die Formel fast verschwindend klein, bescheiden, und, so wie sie in der Mitte prangte, zugleich vornehm.
Als ich sie noch einmal auf mich wirken ließ, fand ich sie sehr eigenartig. Verglichen mit anderen Formeln, die ich bereits kannte – wie
Die Fläche eines Rechtecks definiert sich als Produkt aus Länge mal Breite
oder
In allen ebenen rechtwinkligen Dreiecken ist die Summe der Flächeninhalte der beiden Kathetenquadrate gleich dem Flächeninhalt des Hypotenusenquadrats
–, bemerkte ich hier ein merkwürdiges Ungleichgewicht. Es gab nur zwei Ziffern, die 1 und die 0. Und als Rechenoperation bloß eine Addition. Die Gleichung als solche war zwar klar und eindeutig, aber die linke Seite wirkte viel elaborierter, fast arrogant. Eine Arroganz, die in der 0 ein Ende fand.
Ich hatte allerdings überhaupt keinen Anhaltspunkt, wo ich beginnen sollte. Unschlüssig nahm ich die erstbesten Bücher in die Hand und blätterte planlos darin herum.
Das Einzige, was ich verstand, war, dass es ausschließlich um Mathematik ging. Ansonsten schienen sie verschlossen zu sein wie ein Buch mit sieben Siegeln, von dem ich mir nur schwer vorstellen konnte, dass es ein Gemeingut für Menschen wie mich sein sollte. Diese unzähligen Seiten voller komplexer undurchschaubarer Berechnungen sollten das Geheimnis des Universums lüften? Das Notizbuch Gottes abbilden? In meiner Vorstellung thronte der Schöpfer des Universums fern am Rande des Himmels, wo er ein Muster aus feiner Spitze webte, mit Fäden so zart, dass selbst das schwächste Licht hindurchschimmerte. Die Vorlage dafür existierte allein in seinem Kopf, niemand konnte sich dieses Musters bemächtigen oder seine Erscheinungsformen voraussehen. Das Spitzengewebe erstreckte sich unendlich in alle Richtungen, es schlug Wellen und bauschte sich im Wind. Unwillkürlich wollte man nach ihm greifen und es gegen das Licht halten. Es mit glänzenden Augen an der Wange reiben. Und wir sehnen uns danach, dieses fein gewirkte Muster in unserer eigenen Sprache neu zu weben. Damit wir es uns zu eigen machen können, damit wir es auf die Erde holen können. Und sei es auch nur ein Bruchteil davon.
Plötzlich fiel mein Blick auf ein Buch mit dem Titel
Der große Fermatsche Satz
. Da es die Geschichte des Problems historisch aufrollte und keine mathematische Abhandlung war, konnte ich dem Inhalt bis zu einem gewissen Grad folgen. Ich wusste bereits, dass dieses Theorem seit Jahrhunderten ungelöst geblieben war, stellte aber erstaunt fest, in welch knapper Form es sich darstellen ließ:
Für die diophantische Gleichung x n + y n = z n gibt es keine positive ganzzahlige Lösung, wenn n als Element der natürlichen Zahlen größer als 2 ist
.
Sollte das alles sein? Auf den ersten Blick schienen alle Zahlen geeignet, um zu einer Lösung zu gelangen. Wenn n = 2 war, dann erhielt man den Satz des Pythagoras (x 2 + y 2 = z 2 ). Wenn man bloß 1 hinzu addierte, also n = 3 war, dann sollte diese Ordnung bereits wieder hinfällig sein? Als ich den Text überflog, erfuhr ich, dass Fermat seine Vermutung in einem Buch am Seitenrand notiert hatte, mit dem Hinweis, der Platz würde nicht ausreichen, um auch den Beweis dafür dort zu notieren. Seitdem hatten sich viele geniale Mathematiker gequält, eine Lösung für dieses perfekte Rätsel zu finden, waren jedoch immer wieder gescheitert. Die Marotte eines einzigen Mannes hatte dazu geführt, dass sich Mathematiker drei Jahrhunderte lang den Kopf zerbrachen. Ein wenig vermochte ich ihre Qualen nachzuempfinden.
Ich musste an das schwere Notizbuch des Schöpfers denken, an die Raffinesse des göttlichen Spitzengewebes. Wie gewissenhaft man den einzelnen Maschen auch folgte, ein unachtsamer Moment reichte aus, den Faden zu verlieren und dann nicht mehr zu wissen, wie es weitergeht. Sobald man glaubte, das Ziel erreicht zu haben, erschien ein noch komplizierteres Muster.
Der Professor hatte zweifellos einen winzigen Teil des Gewebes verstanden. Welche herrlichen Muster hatte er wohl schon gesehen? Ich konnte nur hoffen, dass ihre Spuren sich tief genug in seinem Gedächtnis eingegraben hatten.
Das dritte Kapitel des Buchs erklärte, weshalb Fermats letzter Satz nicht nur ein Rätsel war, das die Neugier fanatischer Mathematiker anstachelte,
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