Das Geheimnis der Götter
Tod zurückkehren, vorausgesetzt er hat nichts Böses getan und gilt als ein Gerechter.«
Isis suchte in ihren Erinnerungen.
Das menschliche Wesen bestand aus einem vergänglichen Körper, einem Namen, der sein Schicksal beeinflusste, und einem Schatten, der auch nach seinem Tod noch da war, um eine erste Wiedergeburt durchzuführen – mit einem ba, der Vogelseele, die bis zur Sonne fliegen und von dort Osiris’
Körper sein Leuchten zurückholen konnte, einem ka, der die unzerstörbaren Lebenskräfte aus dem Jenseits des Todes wiedereroberte, und dem akh, der verklärten Seele, die bei der Einweihung in die Mysterien erweckt wird.
Und Iker war im Besitz all dieser Elemente.
Doch der Tod konnte sie trennen und zersplittern. Wenn das Gericht des Osiris ein günstiges Urteil sprach, setzten sie sich auf der anderen Seite wieder zusammen und formten ein neues Wesen, das zwei Ewigkeiten leben konnte – die des Augenblicks und die der Zeit, die sich vom Kreislauf der Natur nährt.
Aber Isis wollte mehr.
»Das Jenseits besteht aus drei Ebenen«, sagte der König.
»Der von Unordnung und Finsternis, in der die Verdammten bestraft werden. Und der des Lichts, wo sich Re und Osiris zusammen mit allen Gerechten vereinen. Dazwischen wird ausgesondert – hier muss das Böse ins Netz gehen. Du und Nephthys, ihr beiden müsst die Riten dieser Zwischenwelt erfüllen.«
Isis und Nephthys machten sich gegenseitig schön. Ein grüner Strich auf die unteren Augenlider sollte an das Horus-Auge erinnern; schwarze Schminke auf den oberen Augenlidern an das Auge Res. Die Schminkfarben, Meisterwerke aus der Hand der Tempelhandwerker, wurden in einer Dose aufbewahrt – »die den Blick öffnet« – und pflegten das göttliche Auge.
Roter Ocker brachte die Lippen zum Leuchten, Bockshornöl machte die Haut geschmeidig.
Auf Nephthys’ Herz malte Isis einen Stern, auf ihren Nabel eine Sonne. So wurden sie zu den zwei Klagenden Frauen, Isis die Große am Heck der himmlischen Barke, Nephthys die Kleine am Bug.
Nephthys legte Isis sieben Gewänder in unterschiedlichen Farben vor, die die verschiedenen Schritte verkörperten, die die Oberpriesterin im Haus der Akazie durchlaufen hatte. Dann zog jede Schwester einen Umhang aus feinstem Leinen an – weiß wie die Unberührtheit des anbrechenden Tages, gelb wie der Krokus und feuerrot.
Sie setzten sich einen goldenen Stirnreif auf, der mit Blüten aus Karneol und Schleifen aus Lapislazuli geschmückt war. Ihre Brust bedeckten sie mit einer breiten Halskette aus Gold und Türkis und mit Schließen in Form von Falkenköpfen. An den Handgelenken und Knöcheln trugen sie Reifen aus leuchtend rotem Karneol, der die Lebenssäfte anregen sollte. Ihre Füße steckten in weißen Sandalen.
Nephthys drückte ihre Schwester an sich.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich deinen Kummer nachfühlen kann, Isis. Ikers Tod ist ein unerträgliches Unrecht.«
»Das ich ungeschehen machen werde. Dazu brauche ich deine Hilfe, Nephthys. Die Hände des Pharaos und die Worte der Macht haben Iker in der Zwischenwelt aufgehalten. Dort müssen wir ihn wieder herausholen.«
Die beiden Frauen betraten die Grabkammer, in der nur eine Lampe brannte. Isis stellte sich ans Fußende des Sarges, Nephthys an sein Kopfende.
Sie streckten ihre Hände über Iker aus. Wellenlinien entströmten ihren Handflächen und hüllten den Leichnam in sanftes Licht.
Abwechselnd beteten sie nun die rituellen Klagelieder, die aus der Zeit von Osiris stammten. Die Schwingungen dieser gleichmäßig vorgetragenen Worte nahmen die zerstörerischen Kräfte gefangen und hielten sie von der Mumie fern. Zwischen die Welt der Lebenden und die der Toten gespannt, entwickelte dies Netz aus magischen Worten eine reinigende Kraft. Schließlich war es Zeit für die größte und letzte Bitte.
»Kehre in deiner ursprünglichen Gestalt in deinen Tempel zurück«, flehte Isis, »kehre in Frieden zurück! Ich bin deine Schwester, die dich liebt und deine Verzweiflung vertreibt. Verlasse diesen Ort nicht, vereine dich mit mir, ich verjage das Unglück. Dir gehört das Licht, du leuchtest. Komm zu deiner Frau, sie umarmt dich, sammle deine Knochen und deine Gliedmaßen, um wieder ein vollständiges Wesen zu werden. Das Wort bleibt auf deinen Lippen, du schlägst die Finsternis in die Flucht. Ich werde dich für immer beschützen, mein Herz ist voller Liebe für dich, ich will dich in die Arme nehmen und dir so nahe bleiben, dass uns nichts
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