Das Geheimnis der Götter
zerstört. Ist der Tod nicht nur eine Krankheit, die sich heilen lässt? Wir müssen Iker ins Leben zurückholen, Majestät, wir müssen das Große Geheimnis einsetzen.«
»Ich teile deinen Schmerz, aber verlangst du da nicht Unmögliches?«
»Der ka geht doch von Pharao zu Pharao? Wenn diese Macht Iker beleben könnte, könnten wir seine Wiedergeburt versuchen. Zumindest in einem Fall, dem des Baumeisters Imhotep, der seit der Zeit der großen Pyramiden lebt, wurde der ka von einem Erleuchteten an den nächsten weitergereicht. Er ist und bleibt der einzige Tempelgründer.«
»Dann ist es dringend notwendig, die Ursachen für Ikers Tod zu entfernen und so schnell wie möglich den
Verwesungsvorgang aufzuhalten. Hole Osiris’ Leichentuch, das für die Mysterienfeier gedacht ist, und komm damit zu mir ins Haus des Lebens.«
Die Leibwachen, die den Pharao begleiteten, trugen den Sarkophag bis vor den Eingang zu diesem Gebäude. Endlich ließ der Sandsturm nach.
»Majestät, wir haben eben den Leichnam des
Oberkommandierenden der Sicherheitskräfte gefunden«, teilte ihm ein Offizier mit. »Er wurde erdrosselt.«
Der König ließ sich keine Regung anmerken.
Es war so, wie er vermutet hatte: Der Feind hatte sich ins Herz der Stadt von Osiris eingeschlichen.
»Lass alle Wachen wecken, verlange Verstärkung aus den Städten in der Nachbarschaft und umzingelt das gesamte Gebiet von Abydos, die Wüste eingeschlossen.«
Der Kahle erschien, humpelnd und gezeichnet, und verneigte sich vor dem König.
Sein nächster Blick galt dem Sarg. »Iker! Ist er…«
»Die Helfershelfer des Propheten haben ihn ermordet.«
Der Kahle sah auf einmal sehr alt aus. »Sie verstecken sich also überall – und ich habe nichts bemerkt!«
»Wir wollen die Riten des Großen Geheimnisses zum Einsatz bringen.«
»Aber, Majestät, sie gelten nur für den Pharao und einige wenige Ausnahmewesen wie zum Beispiel Imhotep oder…«
»Gehört Iker nicht auch zu ihnen?«
»Wenn wir uns täuschen, wird er vernichtet!«
»Isis ist entschlossen, sich dieser Herausforderung zu stellen. Und ich bin es auch. Wir müssen uns beeilen, ich muss den Tod vertreiben.«
Der Kahle öffnete die Tür zum Haus des Lebens.
Beim Anblick des Pharaos blieb die Pantherin, die über die heiligen Archive wachte, ganz friedlich.
Als Isis mit einer Truhe aus Elfenbein und blauem Steingut zu ihnen trat, nahm der König den Körper des Verstorbenen hoch und trug ihn in das Gebäude. An diesem Ort, an dem der Spruch der Freude geschaffen wurde, wo man vom Wort lebte, wo man die einzelnen Worte unterschied, indem man ihren Sinn ganz erfasste – hier sammelte sich der Pharao, las und schuf die Rituale, an denen ständige Priester seit alters her feilten.
Er legte die sterbliche Hülle Ikers auf ein Bett aus Holz, das mit Messern bewaffnete Götterfiguren schmückten. So konnte kein böser Geist den Schlafenden bedrängen.
»Zieht ihm den Umhang von Osiris an«, befahl der Monarch Isis und dem Kahlen. »Sein Kopf muss auf dem Kissen von Schu ruhen, der lichten Luft am Anfang allen Lebens.«
Isis öffnete die Truhe und nahm das Kleidungsstück aus königlichem Leinen heraus, das Iker Osiris bei der Mysterienfeier hätte überreichen sollen. Die junge Frau hatte den kostbaren Stoff gewaschen und geglättet. Nur eine Frau, die in die Geheimnisse der Hathor eingeweiht war, durfte ihn in die Hand nehmen – er funkelte wie eine Flamme. Dieses Leichentuch war die Schwester von Re, die Verkörperung des göttlichen Lichts, und reinigte und machte unverweslich.
Zur großen Überraschung des Kahlen blieb Ikers
Gesichtsausdruck – seine Augen waren weit geöffnet –
friedlich.
Die Flamme dieses heiligen Stoffes hätte eigentlich sein Fleisch verzehren und den irren Hoffnungen der Isis ein Ende bereiten müssen.
Sie sah ihn an und sprach mit ihm, auch wenn er kein einziges Wort sagte. Nachdem er diese erste Probe bestanden hatte, durfte Iker in einem Raum kämpfen, der weder Tod noch Wiedergeburt war.
Natürlich hätte sich seine Gattin mit den Riten zufrieden geben können, die es den Seelen der Gerechten gestatteten, in den Himmeln des Jenseits weiterzuleben. Aber dieser Tod und dieser Mord waren ein Werk des Bösen, das sich nicht damit begnügte, einen Menschen zu töten, sondern den geistigen Sohn des Pharaos und das Schicksal zu zerstören, das er verkörperte.
Isis verstand, dass der Kahle dieses Vorhaben missbilligte, und wusste, wie gefährlich es war. Aber
Weitere Kostenlose Bücher