Das Geheimnis der Götter
und keine Mauer, weder eine sichtbare noch eine unsichtbare, wird mich aufhalten.«
Der Sand drang in alle Ritzen. Isis hatte Fenster und Türen geschlossen und wehrte sich nicht länger. Erst musste das schlechte Wetter vorbei sein, ehe sie mit diesem ungebetenen Eindringling aufräumen wollte.
Der Sturm heulte so fürchterlich, dass es ihr kalt über den Rücken lief. Er stöhnte und ächzte, fiel immer wieder über die Gebäude her und kannte keine Ruhepause.
Isis war auf einmal zutiefst beunruhigt.
Warum kam Iker nicht nach Hause? Hatte er vielleicht noch so viel zu erledigen, dass er im Tempel bleiben wollte, bis das Unwetter vorübergezogen war?
Plötzlich spürte die Priesterin einen stechenden Schmerz, der ihr beinahe das Herz zeriss. Sie musste sich setzen und bekam kaum Luft. Noch nie zuvor hatte sie eine so schreckliche Angst überfallen. Die Goldene Palette, die auf einem Tischchen neben ihr lag, leuchtete seltsam. Isis überwand ihren Schmerz und nahm sie in die Hand.
Auf der Palette stand die Hieroglyphe für Thron, mit der man auch ihren Namen schrieb.
Iker rief nach ihr.
Beängstigende Erinnerungen bestürmten sie. Hatte ihr nicht der alte Oberpriester, der inzwischen verstorben war, zu verstehen gegeben, sie sei keine gewöhnliche Priesterin und ihr stünde ein äußerst gefährlicher Auftrag bevor? Nein, sie durfte sich nicht so gehen lassen. Das war weiter nichts als ein Sandsturm, ihr Mann verspätete sich nur ein wenig, wegen Überarbeitung hatte sie einen harmlosen Schwächeanfall… Isis erfrischte ihr Gesicht mit kaltem Wasser und legte sich aufs Bett.
Die Goldene Palette, ihr Name, Ikers Ruf… Sie konnte nicht untätig bleiben.
Isis zog ihr langes weißes Priesterinnengewand an, band sich einen roten Gürtel um und schlüpfte in Ledersandalen. Der Sturm tobte noch immer unvermindert heftig, und der Sand peitschte ihr Gesicht.
Weiter als fünf Schritte konnte man nicht sehen, der Weg war nicht zu erkennen. Sie hätte umkehren sollen, aber brauchte Iker vielleicht ihre Hilfe? Ihre Herzen und ihre Seelen waren einander so sehr verbunden, dass sie sich auch trotz räumlicher Trennung nahe blieben.
Doch seit einiger Zeit spürte sie, dass sich Iker von ihr entfernte. Würde sie ihn etwa verlieren?
Isis trotzte dem Sturm und bahnte sich ihren Weg zu Sesostris’ Tempel der Millionen Jahre. Vielleicht war der Königliche Sohn auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen, die er bewältigen wollte, ohne dabei auf die Zeit zu achten?
Oder vertiefte er in Gemeinschaft mit den Ritualisten noch jeden einzelnen Teil der Mysterienfeier?
Doch keiner dieser Gedanken konnte sie beruhigen. Mit jedem Schritt spürte sie das Unglück deutlicher. Das Böse hatte Abydos getroffen.
Nie zuvor hatte es eine derart finstere Nacht gegeben.
»Du wirst schreckliche Prüfungen erleben«, hatte ihr die Königin angekündigt, »du musst die Worte der Macht kennen lernen, damit du gegen die sichtbaren und unsichtbaren Feinde kämpfen kannst.«
Pflastersteine – sie war auf dem Weg zum Tempel. Hier kannte sie sich besser aus als irgendjemand anderer. Dennoch hielt sie etwas davon ab weiterzugehen. Nicht weit weg vom ersten Portal stieß sie gegen einen Sarkophag. Auf seinen Deckel war mit roter Tinte ein SethKopf gemalt. Fieberhaft schob die Priesterin den Deckel zur Seite. Im Inneren ein Leichnam.
Isis versuchte sich einzureden, sie hätte sich getäuscht, und schloss die Augen.
Nein, nicht Iker…
Dann beugte sie sich zu ihm und küsste ihn.
Sie nahm ihren Gürtel und band einen magischen Knoten, den sie auf seinen Körper legte, um ihre Seele mit der des Verstorbenen zu verknüpfen. Zuletzt streifte sie ihrem Mann einen Ring mit dem Lebenskreuz über den Mittelfinger seiner rechten Hand.
Aus der sandigen Finsternis tauchte ein Hüne auf.
»Majestät…«
Sesostris nahm seine Tochter in die Arme.
Und sie weinte, wie noch nie eine Frau geweint hatte.
20
Der Pharao hatte das Unheil kommen sehen und schon befürchtet, dass er zu spät eintreffen würde. Schwierige Wetterbedingungen auf dem Nil hatten verhindert, dass sein Schiff Abydos rechtzeitig erreichte.
Und der Feind hatte ihn eben mitten ins Herz getroffen. Als er Iker tötete, zerstörte er die Zukunft Ägyptens. Isis blickte zum Himmel.
»Wer den Bruder und die Schwester trennen will, dem wird es nicht gelingen. Er will mich zerbrechen und mich in Verzweiflung stürzen. Aber ich werde ihn zertreten, weil er Glück und Rechtschaffenheit
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