Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
jedes Wort und jede Zeile, an die ich mich erinnern konnte, wild durcheinander und ungeordnet, wie man es von einem heruntergekommenen Geschöpf wie mir erwarten konnte. Am meisten schienen ihn Nisses’ rätselhafte Bemerkungen über den Tod zu fesseln, vor allem etwas, das ›durch den Schleier sprechen‹ hieß. Dabei schien es sich um Rituale zu handeln, mit deren Hilfe man zu etwas gelangt, das Nisses ›Lieder der oberen Luft‹ nennt – das sind offenbar die Gedanken derjenigen, die jenseits der Sterblichkeit stehen, sowohl der Toten als auch der Niemals-Lebenden. Ich würgte alles heraus, gierig danach, ihn zufriedenzustellen, während Pryrates dasaß und nickte, immer wieder nickte, und sein haarloser Schädel im roten Licht glänzte.
Plötzlich, mitten in diesem grausigen Geschehen, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Ihr könnt Euch denken, dass es eine Weile dauerte, bis ich es bemerkte, aber seitdem ich angefangen hatte, freimütig über meine Erinnerungen an Nisses’ Buch zu erzählen, hatte man mir nichts mehr zuleide getan. Einer der schweigenden Diener gab mir sogar einen Becher Wasser, damit ich deutlicher sprechen konnte. Während ich so dahinplapperte und auf jede Frage von Pryrates so eifrig antwortete wie ein Kind bei seiner ersten heiligen Mansa, begann mich etwas an der Art zu beunruhigen, wie sich das Licht durch den Raum bewegte. Zuerst war ich, müde und vollerSchmerzen, fest überzeugt, Pryrates sei es irgendwie gelungen, die Sonne in ihrer Bahn zurückrollen zu lassen, denn das Licht, das von Osten nach Westen über die blutigen Fenster hätte wandern müssen, schlug stattdessen den umgekehrten Weg ein. Ich sann darüber nach – in solchen Augenblicken ist es gut, wenn man an etwas anderes denken kann als das, was einem gerade widerfährt – und kam zu dem Ergebnis, dass die Gesetze des Himmels doch noch gültig waren. Es war vielmehr der Turm, oder jedenfalls das oberste Geschoss, in dem wir uns befanden, das sich langsam drehte, geringfügig schneller, als die Sonne selbst ihre Bahn zog, jedoch so gemächlich, dass man es in Verbindung mit dem rundum gleichmäßigen Aussehen des obersten Turmstockwerks von außen wahrscheinlich nie bemerkt hatte.
Darum also, dachte ich, durfte nichts an den Steinen der Zimmerwände stehen! Selbst in meinem großen Schmerz und all meiner Angst staunte ich über das riesige Getriebe der Räder, die sich lautlos hinter dem Mörtel oder unter meinen Füßen bewegen mussten. Solche Dinge hatten mir früher viel Freude gemacht – in meiner Jugend brachte ich viele Stunden mit dem Studium der Gesetze der Mechanik zu, die den Himmel und die Erde regieren. Und, bei allen Göttern, es lenkte mich von dem ab, was man mir angetan hatte und was ich selbst meinen Mitmenschen antat.
Während ich fleißig weiterschwatzte, sah ich mich in dem runden Raum um und bemerkte zum ersten Mal die unauffälligen Zeichen, die in das rote Fensterglas geätzt waren. Diese Zeichen, als schwache Linien aus dunklerem Rot an die Wand geworfen, kreuzten die seltsamen Symbole, mit denen die Innenmauer des Turms bemalt war. Mir fiel keine andere Erklärung ein, als dass Pryrates die Spitze des Hjeldinturms in eine Art gigantische Wasseruhr verwandelt hatte, einen Zeitmesser von phantastischer Größe und Kompliziertheit. Ich habe seither darüber gesonnen und gegrübelt, aber bis heute ist mir nichts eingefallen, das so gut zu dem Gesehenen passt. Ich nehme an, für die schwarzen Künste, denen Pryrates sich widmet, sind Stundenglas und Sonnenuhr zu ungenau.«
Miriamel gönnte ihm eine lange Pause. »Und was geschah dann?«
Cadrach zögerte noch. Als er dann weitersprach, redete er etwas schneller, als quälte ihn dieser Teil seiner Erinnerung sogar noch mehr als der vorhergehende.
»Nachdem ich Pryrates alles gesagt hatte, was ich wusste, saß er so lange da und brütete vor sich hin, bis der letzte Sonnenstrahl durch eines der Fenster verschwand und am Rand des nächsten wieder sichtbar wurde. Dann stand er auf und winkte. Einer der Diener trat hinter mich. Ich bekam einen Hieb auf den Kopf und verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Dickicht am Ufer des Kynslagh. Meine Kleider waren zerrissen und mit meinen Körperflüssigkeiten beschmutzt. Ich glaube, sie haben mich für tot gehalten. Vielleicht glaubte Pryrates auch nicht, dass ich noch die geringste Mühe wert war, nicht einmal die, mich endgültig umzubringen.« Cadrach holte tief Atem.
»Man
Weitere Kostenlose Bücher